Auszüge aus dem Interview von Michael Meier mit Samir al-Sheikh. Dieser lehrt an der Al-Azhar-Universität Scharia-Wissenschaften in englischer Sprache. Al-Azhar ist die wichtigste Bildungsinstitution für Geistes- und Naturwissenschaften im sunnitischen Islam.
Sie möchten, dass Ägyptens neue Verfassung allein auf der Scharia, dem Gesetz Gottes, fusst. Der westlich säkulare Weg ist für Sie nicht möglich?
Im christlichen und jüdischen Westen hat man die komplette Trennung zwischen Religion und dem täglichen Leben. Man geht vielleicht noch zur Kirche, ist religiös auf die eine oder andere Art. Der Islam hingegen ist ein alles umfassender Lebensweg. Der Islam ist mit dir, wenn du aufwachst am Morgen, und begleitet dich, bis du zu Bett gehst. Die Scharia gibt einen kompletten Kodex von islamischen Gesetzen, die unser Leben durchdringen bis ins letzte Detail und angewendet werden müssen.
Bis jetzt wird in Ägypten die Scharia nur beim Familienrecht angewandt. Warum nicht auch beim Strafrecht?
In fast allen arabischen Ländern ist nur das Familienrecht in Kraft, das Dinge wie Erbschaft oder Scheidung regelt. Das Strafrecht wird nur in Saudiarabien angewandt. Meines Erachtens sollte auch in Ägypten das Strafrecht als solches angewandt werden. Schliesslich braucht man keine Angst zu haben vor Scharia-Strafen. Zum Beispiel: Bevor man die Hand eines Diebes abhackt, müssen folgende Bedingungen erfüllt sein: Das gestohlene Ding muss an einem verschlossenen Ort gewesen sein. Der Wert der Sache muss mehr sein als ein Viertel Dinar. Wegen einer Orange wird man also nicht bestraft. Auch wer aus Not und Hunger stiehlt, dem wird die Hand niemals amputiert.
Die Scharia empfiehlt als Strafe auch das Steinigen.
Ja, das wird aber kaum je praktiziert. Die Strafe des Steinigens droht bei Ehebruch. Um aber die Strafe anzuwenden, muss der Kläger vier Zeugen beibringen, die den ehebrecherischen Geschlechtsverkehr gesehen haben. Ist das je zu beweisen? Nein. Darum frage ich mich, warum man im Westen derart Angst hat vor der Scharia. Die Strafen im Islam sind gerecht, praktikabel und fair. Auf Christen oder Juden würden wir die Scharia-Strafen sowieso nicht anwenden. Und bei den Muslimen müssen wir sie nur in drei bis vier Fällen anwenden – dann kennt die ganze Gemeinschaft deren abschreckende Wirkung, und das Leben der Gemeinschaft ist stabilisiert. … Die Strafe läutert den Menschen. Er tritt dann vor Gott ohne böse Lasten. Für uns ist das Jenseits wichtiger als dieses Leben.
Zeigt das nicht, dass Scharia und Menschenrechte unvereinbar sind?
Die Scharia kommt von Gott, und Gott weiss sehr wohl, was Menschenrechte sind. Wir finden die Scharia besser als die Menschenrechte, denn sie hat einen besseren Gesetzeskodex als die Menschenrechte. Dank Gottes Voraussicht haben wir in der Scharia die perfekten Menschenrechte.
Die Scharia kennt keine Religionsfreiheit.
Gemäss dem Koran sagte der Prophet ausdrücklich, es dürfe in Sachen Religion keinen Zwang geben. Es gibt kein Recht, die Leute zum Islam zu zwingen. Es gibt nur eine Einladung zum Islam.
Zur Religionsfreiheit gehört das Recht, den Glauben zu wechseln.
Wer die Religion wechselt, muss getötet werden. Das ist Apostasie, Glaubensabfall.
Viele Islamisten wollten die Scharia in Ägypten zur einzigen Grundlage des Rechts erklären. Sie auch?
Ich gehöre zu jenen, die auch festschreiben möchten, was das islamische Recht von anderen Rechtssystemen unterscheidet. Darum will ich, dass die Scharia als solche angewandt wird. Natürlich respektieren wir die Kopten; sie haben das Recht, ihre eigenen religiösen Gesetze anzuwenden, etwa im Eherecht. Vor dem Zivilrecht sind wir natürlich alle gleich.