Wie es russischen Soldaten ergeht, die im Ukraine-Krieg kämpfen, ist in Zeiten einer massiven Zensur nur schwer zu beurteilen. Journalisten der Investigativplattformen „The Insider“ und Bellingcat haben nun allerdings Zugang zu einem Archiv mit Beschwerden zum Ukraine-Krieg erhalten. Die Schreiben wurden von russischen Soldaten, ihren Angehörigen und Zivilisten aus Kriegsgebieten bei der russischen Militärstaatsanwaltschaft eingereicht und zeigen eine von Wut und Verzweiflung geprägte Stimmung.
In den Beschwerden wird das russische Verteidigungsministerium unter anderem beschuldigt, wehrpflichtige Soldaten zu täuschen und zum Kampf zu zwingen. Außerdem sollen die Truppen nicht die notwendigen Lebensmittel und medizinische Behandlung erhalten. Familienangehörigen werden Informationen über gefangene oder getötete Soldaten vorenthalten. „The Insider“ und Bellingcat überprüften nach eigenen Angaben die Echtheit des Briefarchivs. „The Insider“ veröffentlichte mehrere Dutzend Beispiele im russischen Original auf seiner Website, die Internetzeitung „Meduza“ übersetzte einige dieser Auszüge ins Englische.
Ein zentraler Vorwurf einiger Soldaten ist, dass sie teils im Krieg eingesetzt wurden, obwohl sie keinen Vertrag unterschrieben hatten. Es wird auch bemängelt, dass sie laut russischer Militärführung zu einer Übung fahren sollten, sich dann aber im Kriegsgebiet wiederfanden.
Eine Mutter beklagt: „In dem Konvoi, der angeblich zu Übungszwecken unterwegs war, bekamen sie Trockenrationen – eine [Portion] für zwei Personen – und es gab kein Wasser.“ Das Trinkwasser mussten die Soldaten der Frau zufolge kaufen. Wütend schließt die Mutter ihren Brief: „Ich verstehe, dass dies die Armee ist, aber das bedeutet nicht, dass unsere Jungs wie Hunde behandelt werden müssen.“
Die Bekannte eines der Soldaten schreibt sogar von erzwungenen Unterschriften unter Verträge: „Der Enkel meines Freundes kam verletzt nach Hause und erzählte uns, wie seine Führungsoffiziere ihn schlugen und ihn zwangen, einen Vertrag zu unterschreiben.“
Zudem gibt es Berichte von Soldaten, die nach eigenen Angaben Kündigungsschreiben eingereicht haben, denen nicht entsprochen wurde. „Ich habe alle meine engsten Kameraden im Kampf verloren, und ich leide unter schweren Depressionen. Ich bin 21 Jahre alt und möchte unbedingt leben. Mein Kommandant weigert sich, mein Kündigungsgesuch zu akzeptieren. Ich habe mich an den Kommandeur der Baltischen Flotte gewandt. Was soll ich in dieser Situation tun?“, fragt ein Soldat.
Andere Angehörige beklagen den Umgang des russischen Militärs mit verletzten oder getöteten Soldaten. Die Frau eines Soldaten berichtet, dass dieser in Belgorod in einem Krankenhaus liege, aber nicht behandelt werde. Er soll Anzeichen einer Gehirnerschütterung zeigen. „Sie sagen: ‚Es gibt viele Leute wie dich. Es ist nur ein psychologisches Trauma. Deine Arme und Beine sind noch dran. Du kannst immer noch kämpfen.'“
Eine Mutter wirft dem russischen Militär vor, nicht bestätigen zu wollen, dass sich ihr Sohn in ukrainischer Gefangenschaft befinde, obwohl es zahlreiche Belege dafür gebe. Sie erhielt demnach bereits Anfang März über eine ukrainische Nummer den Hinweis, dass ihr Sohn verletzt sei und in einem Krankenhaus in der Region Mykolajiw liege. Sie konnte dann auch mehrfach mit ihrem Sohn telefonieren und besitzt sogar Videoaufnahmen, die ihn in Gefangenschaft zeigen, schreibt sie. Dennoch bleibe das russische Verteidigungsministerium stur. „Die ‚Hotline‘ des [russischen] Verteidigungsministeriums teilte meiner Tochter mit, dass mein Sohn nicht unter den Gefangenen sei und als vermisst gelte„, schreibt sie.
Die Eltern eines anderen Soldaten versuchen dagegen, eine Bestätigung für den Tod ihres Sohnes zu erhalten. Sie hätten keinen telefonischen Kontakt mehr zu ihm, aber von Kameraden erfahren, dass er Ende März bei einem Angriff auf seinen Schützenpanzer ums Leben kam. Seine Leiche wäre nicht abtransportiert worden. Verzweifelt bitten die Eltern: „Wir haben DNA-Proben eingereicht. Ich bitte Sie, diese zu untersuchen. […] Es ist mehr als ein Monat vergangen. Schicken Sie wenigstens seine Überreste zurück, damit er wie ein Mensch beerdigt werden kann.“
Russische Soldaten plündern – auch in Donezk. Laut Aussage der Eltern beschädigten die russischen Soldaten dabei die Garage mit einem Panzer schwer und rissen Türen und Wände ein. Damit nicht genug, wurde das Ehepaar offenbar noch bestohlen. „Sie stahlen Ersatzteile und Werkzeuge im Wert von 200.000 Rubel (umgerechnet 3300 US-Dollar) und gingen sogar so weit, dass sie Münzen aus den Autos und ein einziges Kondom aus dem Auto meines Bruders stahlen“, heißt es in dem Schreiben. „Sagen Sie mir, sind diese Leute überhaupt Menschen? Sind sie hierhergekommen, um uns zu beschützen oder um zu rauben und zu morden? Ist das die Z-Operation?“ mehr Informationen
Immer mehr Berichte russischer Soldaten über Gräueltaten in der Ukraine werden öffentlich. Die Unzufriedenheit bei Moskaus Truppen scheint groß. Über 26.000 Kriegsverbrechen russischer Soldaten wurden seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine offiziell registriert.
Die russische Investigativplattform „iStories“ und das russische Exilmedium „Meduza“ veröffentlichten in den vergangenen Tagen Recherchen über und Berichte von Russen, die von ihrem Einsatz in der Ukraine berichten.
Noch sind es nur wenige, und doch bestätigen ihre Berichte Anschuldigungen, die bereits seit Kriegsbeginn gegen die russische Armee erhoben werden: Dass sie grundlos Zivilisten foltert, tötet, entführt und deren Häuser plündert. Dass sie Angehörige daran hindern, die Toten zu begraben.
Die Berichte bestätigen auch, dass viele der russischen Soldaten wohl vor dem 24. Februar nicht wussten, dass sie ihr Nachbarland angreifen sollten.
Auch der 33-Jährige Fallschirmjäger Pawel Filatiew war einer von tausenden Russen, die am 24. Februar die Ukraine überfallen haben. Zwei Monate später trat er aus gesundheitlichen Gründen aus der Armee aus. Jetzt hat Filatiew ein Buch veröffentlicht, in dem er den Krieg als solchen bezeichnet – obwohl dies in Russland verboten ist – und den Krieg verurteilt.
Filatiew war vor der Invasion auf der Krim stationiert, wie er selbst schreibt, und merkte Mitte Februar, „dass sich definitiv etwas zusammenbraut“. Das will er daran gemerkt haben, dass selbst die Ausgemusterten und Kranken wieder auf den Trainingsplatz geschickt worden sein sollen.
Am 20. Februar musste Filatiews Einheit losmarschieren, wie er schreibt, wohin, soll unklar gewesen sein. Am 23. Februar soll der Divisionskommandeur verkündet haben, dass ab dem kommenden Tag – dem 24. Februar – das tägliche Gehalt 69 US-Dollar betragen sollte, eine deutliche Erhöhung. „Das war ein klares Zeichen, dass etwas Ernstes passieren würde.“
Zu Beginn des Angriffskrieges, am 24. Februar um 2 Uhr, soll Filatiew sich auf einem Panzer „irgendwo in der Wildnis“ befunden haben, links und rechts feuerte seine Brigade Artillerie ab. „Ich konnte nicht verstehen: Schießen wir auf vorrückende Ukrainer? Oder vielleicht auf NATO-[Truppen]? Oder greifen wir an? Auf wen zielt dieser höllische Beschuss?“, schreibt Filatiew.
Nach einer Weile, als er und seine Kameraden den Befehl erhielten, nach Cherson vorzurücken, verstand Filatiew, dass Russland die Ukraine attackiert hatte.
In Cherson angekommen hätten er und andere russische Soldaten „in Gebäuden nach Essen, Wasser, Duschen und einem Schlafplatz gesucht“. Einige hätten begonnen, Computer und andere Wertgegenstände zu stehlen. „Ich war keine Ausnahme: Ich fand einen Hut in einem zerstörten Panzer und nahm ihn“, schreib er.
Filatiev zufolge war die Technik „hoffnungslos veraltet“, die Kampftaktiken, die die russische Armee anwandte, seien dieselben, die ihre Großväter angewandt hatten.
Seiner Meinung nach ist der größte Teil der Armee unzufrieden mit den Geschehnissen, mit Putin und seiner Politik. „Wir hatten kein moralisches Recht, ein anderes Land anzugreifen, vor allem nicht das Volk, das uns am nächsten steht. Als das alles begann, kannte ich nur wenige Menschen, die an die Nazis glaubten und außerdem gegen die Ukraine kämpfen wollten. Wir hegten keinen Hass und betrachteten die Ukrainer nicht als Feinde.“
Ein Großteil der russischen Armee sei unzufrieden mit der russischen Regierung, mit Putin und seiner Politik und mit dem Verteidigungsminister Sergej Shoigu. mehr Informationen
Der 34-Jährige schreibt ein Buch, das den Titel „ZOV“ trägt – jene Buchstaben, die in Russland zum Symbol von Kriegspatriotismus geworden sind. Darin schildert er den von Angst, Hunger und Frust geprägten Alltag russischer Soldaten an der Front. Und beschreibt, wie nach einem Monat im Freien, ohne Schutz, ohne Dusche, ohne richtige Nahrung, die Stimmung bei der Eroberung des Hafens von Cherson im Süden der Ukraine endgültig gekippt sei. Um dem Krieg zu entkommen, hätten einige Kameraden sogar begonnen, sich absichtlich zu verwunden.
Kurz nach der Veröffentlichung seines Buchs wurde Pavel Filatiev von der Menschenrechtsorganisation Gulagu.net aus dem Land geschleust.