Obwohl Christen in der Türkei weniger als ein halbes Prozent der Bevölkerung ausmachen, stellen Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine regierende Partei Gerechtigkeit und Versöhnung (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) sie als eine ernste Bedrohung für die Stabilität der Nation dar.
Infolge von Erdogans dschihadistischer Rhetorik, in der christliche türkische Bürger oft stereotyp als Menschen dargestellt werden, die keine echten Türken, sondern westliche Handlanger und Kollaborateure seien, tendieren viele Türken offenbar zu einer „eliminatorisch, antichristlichen Mentalität“.
Da war es kein Wunder, dass kürzlich eine Welle der Xenophobie durch die sozialen Medien ging, als ein offizieller Online-Genealogie-Dienst in Betrieb genommen wurde, der es Türken ermöglicht, ihre Ahnenreihe zurückzuverfolgen: Viele begrüßten die Chance, „Krypto-Armenier, Griechen und Juden“ zu enttarnen, welche sich als echte Türken verkleiden würden.
Der Istanbuler Pastor Yüce Kabakçı sagt: „Die Wirklichkeit ist, dass die Türkei weder eine Demokratie noch eine säkulare Republik ist. Es gibt keine Trennung zwischen Regierungsangelegenheiten und religiösen Belangen. Es gibt keinen Zweifel, dass die Regierung die Moscheen benutzt, um ihre Botschaft an ihre Unterstützer an der Basis zu bringen. Es gibt in der Türkei derzeit eine Atmosphäre, in der jeder, der kein Sunnit ist, als eine Gefahr für die Stabilität der Nation betrachtet wird. Selbst die gebildeten Klassen hier lassen sich nicht mit Juden oder Christen ein. Es ist mehr als eine Verdächtigung. Es ist ein: ‚Lasst uns alle vertreiben, die keine Sunniten sind.’“
Die ultranationalistische islamistische Gruppe Alperen Hearths stellte in einer schauspielerischen Darbietung eine erzwungene Konversion des Weihnachtsmanns zum Islam dar, dabei wurde dem als Weihnachtsmann verkleideten Schauspieler eine Pistole an den Kopf gehalten. Das Foto wurde anschließend über Twitter verbreitet. Ein Vertreter der Gruppe erklärte die Aktion so: „Unser Ziel ist es, dass die Menschen zu ihren Wurzeln zurückkehren. Wir sind muslimisch-türkische Menschen, die seit Tausenden von Jahren den Islam anführen. Wir werden keine christlichen Traditionen feiern und unsere eignen Traditionen wie Hıdrellez, Nevruz und andere nationale religiöse Feiertage vernachlässigen.
In einem Kommentar im „Guardian“ beschrieb die türkische Schriftstellerin Elif Shafak am 3. Januar 2017: „Diejenigen, die die Linie der Partei in Frage stellen, werden als ‚Verräter’ und ‚Handlanger’ westlicher Mächte verunglimpft. Jungen Leuten wird gesagt, dass wir ein Land seien, das auf drei Seiten von Wasser umgeben sei und auf allen vier Seiten von Feinden. Paranoia, Misstrauen und Furcht werden immer stärker, die Kultur der Koexistenz wird zersetzt.“
Vor Neujahr gab es wochenlang Kampagnen ultranationalistischer und islamistischer Gruppen, die Flugblätter in den Straßen verteilten, auf denen stand: „Muslime feiern nicht Weihnachten.“
Während die Idee, dass christliche Türken Kollaborateure des Westens seien, nichts Neues ist, hat die unkritische massenhafte Akzeptanz, die dieser Narrativ erfährt, die Folgen des Putsches für die christliche Minderheit der Türkei verschärft. Das türkische Bildungssystem habe seit Jahren Misstrauen gegen die christlichen Türken und den christlich geprägten Westen gesät, sagt die amerikanische Anthropologin Jenny White.
In den Schulbüchern wurden nichtsunnitische Bürger als spalterische Elemente dargestellt, die von den Feinden der Türkei unterstützt würden.
Ein ähnliches Bild zeichnet die Anthropologin Ayşe Gül Altınay. Sie hat Klassenzimmer im ganzen Land besucht und fand dort fast keine Gespräche über Frieden, Koexistenz, Dialog oder Gewaltfreiheit. Stattdessen wurde den Schülern beigebracht, Unterschiede zu fürchten und nichtmuslimische Freunde als völlig „anders“ zu behandeln.
Das Konzept des Dschihad wird ab dem Lehrjahr 2017/18 in die religiösen Lehrpläne integriert, und die Schulen würden verpflichtet, patriotischen Geist zu lehren.
Laut White werden die Christen nicht nur vom Schulsystem, sondern auch von Regierungsorganisationen und dem Militär als Bedrohung der türkischen Einheit wahrgenommen. Bis vor kurzem etwa hätten sowohl die Website des türkischen Generalstabs als auch die von Diyanet missionarische Aktivitäten als eine der Hauptgefahren für die Türkei angeführt. 2001 nannte der Nationale Sicherheitsrat protestantische Missionare als die drittgrößte Gefahr, der die Nation gegenüberstehe. Drei Jahre später hieß es in einem Bericht der türkischen Armee, protestantische Missionare planten, eine Million Bibeln zu verteilen und bis 2020 zehn Prozent der türkischen Bevölkerung zu bekehren; Gouverneure, Bürgermeister und das Sicherheits- und Bildungspersonal wurden gedrängt, dieser Gefahr entgegenzuwirken. In einem Artikel in einer Monatszeitschrift aus dem Jahr 2005 warnte die Diyanet, dass missionarische Aktivitäten, wie harmlos sie auch wirken möchten, auf das Ziel hinarbeiteten, das Land zu spalten, seine Einheit zu untergraben und türkische Bürger zu Werkzeugen finsterer Bestrebungen zu machen.
In Wahrheit wird die angebliche Gefahr, dass die Türkei eine christliche Nation werden könnte, von der Demografie des Landes widerlegt, wenn man auf die Veränderungen bei der Religionszugehörigkeit in den letzten hundert Jahren schaut. Laut dem osmanischen Zensus machte die christliche Minderheit in der Türkei 1914 fast 20 Prozent aus. 1927, nur 13 Jahre später, waren weniger als 2,5 Prozent der Bevölkerung Christen. Heute sind es weniger als 0,2 Prozent der 80 Millionen Türken (in der Zahl enthalten sind schätzungsweise 45.000 Christen, die vor der Verfolgung durch den IS aus dem Irak und Syrien geflohen sind). 23) Tatsächlich könnte selbst die Schätzung von mickrigen 0,2 Prozent noch zu hoch gegriffen sein. Der offizielle Zensus beziffert den Anteil des Islam auf 99,8 Prozent, bei 0,2 Prozent „Sonstigen“ (vor allem Christen und Juden).
Wie in den meisten anderen mehrheitlich islamischen Staaten hatten die Christen in der Türkei nie dieselben Rechte wie die muslimische Mehrheit – weder im Osmanischen Reich noch heute. Die Gesetze der heutigen Zeit bevorzugen die Muslime. Kirchen dürfen nicht über eine bestimmte Höhe gebaut werden, während auf den höchsten Berggipfeln enorme Moscheen errichtet werden. Christliche Gottesdienste sind nur in Gebäuden erlaubt, „die für diesen Zweck geschaffen wurden“. Türken, die in der Öffentlichkeit über das Christentum reden, drohen Verfolgung, Drohungen und Gefängnis. Die meisten Kirchen sind von hohen Mauern umgeben und werden rund um die Uhr bewacht.
Und doch bemerken die türkischen Christen seit dem Putschversuch von 2016 eine qualitative Veränderung in der Haltung der sunnitischen Mehrheit ihnen gegenüber.
Umut Şahin, Generalsekretär der Union Protestantischer Kirchen und Pfarrer in Izmir, sagt: „Einige Leute haben Morddrohungen auf die Mobiltelefone von 15 Pfarrern geschickt. Sie benutzten in den Textbotschaften dieselben Begriffe und Argumente wie der IS. Sie sandten den Pfarrern Propagandavideos des IS.“ Der protestantische Kirchenführer Ihsan Ozbek machte publik, dass einige Kirchen mittlerweile aus Angst vor Anschlägen des IS auf den sonntäglichen Gottesdienst verzichten. „Das hat in unserer Gemeinschaft tiefe Furcht und Panik geschaffen.“
In einigen Fällen haben die Regierung oder örtliche Behörden das Kircheneigentum christlicher Türken enteignet. Im April 2016 etwa beschlagnahmten die Behörden alle Kirchen in der mehrheitlich kurdischen Stadt Diyarbakir im Südosten. Die historische armenische Surp-Giragos-Kirche, die 1.700 Jahre alt ist und eine der größten armenischen Kirchen im Nahen Osten, wurde von der Regierung konfisziert.
Die türkische Regierung beschlagnahmte kürzlich auch etliche Gebäude in der südöstlichen Stadt Mardin, die den assyrischen (syrischen) Christen gehören, und übertrug sie an öffentliche Institutionen: Dutzende von Kirchen und Klöstern wurden der Diyanet gegeben; Friedhöfe wurden an die Kommunalverwaltungen übertragen. Diese Beschlagnahmung von Kircheneigentum ist einer von vielen Hinweisen darauf, dass die Regierung Christen nicht als Teil der größeren türkischen Gemeinschaft ansieht. mehr Informationen