Recep Tayyip Erdoğan ersetzt eine westliche-orientierte Demokratie in der Türkei seit Jahren. Jetzt ist seine Chance gekommen, ein „islamisch-türkisches Kalifat“ zu errichten.
Massenverhaftungen, schnelle Verhandlungen und angedrohte Todesurteile. Das ist die Richtung weg von westlich-demokratischen Strukturen. Pressefreiheit, Gewaltenteilung und Trennung von Staat und Religion hatte Erdoğan de facto bereits abgeschafft. Eine Staatsreform wollte Erdoğan schon immer.
Im April 1998 wurde Erdoğan zu zehn Monaten Gefängnis und einem lebenslangen Politikverbot verurteilt, weil er aus einem religiösen Gedicht, das Ziya Gökalp zugeschrieben wird, zitiert hatte:
„Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“
Erst durch eine Verfassungsänderung nach dem Wahlsieg der AKP 2002 konnte Erdoğan überhaupt als Abgeordneter ins türkische Parlament einziehen und damit 2003 zum Ministerpräsidenten gewählt werden. Hier begann der Putsch. Die Türkei, in der oben zitiertes Gedicht als Volksverhetzung galt, gab es nicht mehr.
Die Islamisierung wurde durch Fethullah Gülen begünstigt, dessen Thesen über einen reformierten Islam Millionen von Anhängern fand. Erdoğan und Gülen wirkten gemeinsam an der Gründung der heutigen Regierungspartei AKP mit. Beide sind führende Köpfe des politischen Islams. Es gibt aber auch vieles, das trennt. Spirituell fühlt sich Erdoğan der uralten Brüderschaft der Nakschibendis verbunden. Für sie sind die „Nurçus“, zu denen Gülen zählt, historische Emporkömmlinge und theologisch schlichter gestrickt. Aber sie hatten einen gemeinsamen Gegner: Den kemalistischen Staat und seine Garanten, das Militär. Heute sind Gülen und Erdoğan Feinde.
Erdoğan propagierte seit den Siebzigerjahren eine Islamisierung der Wirtschaft „von unten“: Muslime sollen nur bei Muslimen kaufen, Unternehmen gründen, irgendwann die Wirtschaft dominieren. Dann werde die Politik folgen.
Gülens Weg war ein anderer: Er setzte auf Bildung, seine Anhänger gründeten Schulen, Universitäten, Studentenwohnheime.
Ab 2010 änderte sich das Verhältnis zwischen Erdoğan und Gülen. Gülen kritisierte im „Wall Street Journal“ eine Aktion des Erdoğan -Lagers. Ein Ableger der Milli-Görüs-Bewegung hatte eine sogenannte Hilfsflotte für Gaza organisiert, deren Schiffe die Gaza-Blockade brechen sollten, die Israel seit 2007 nach der gewaltsamen Machtübernahme der Hamas eingerichtet hatte. Neun Türken sind dabei von israelischen Kommandos erschossen wurden. Diese Aktion schien die politische Schlagkraft der Bewegung zu unterstreichen. Das missfiel Gülen. Er sagte dem „Wall Street Journal“ damals, die Organisatoren hätten eine Lösung mit Israel suchen müssen.
2012 entließ Erdoğan daraufhin mehrere „Gülenisten“ aus Spitzenfunktionen. Der große Bruch kam Anfang 2013, als Erdoğan versuchte, eine Haupteinnahmequelle der Gülenisten abzuwürgen: Die von der Gülen-Bewegung betriebenen Nachhilfeschulen sollten geschlossen werden.
Gülen konterte mit einer scharfen Videobotschaft an seine Anhänger: „Wenn sie eure Häuser schließen, öffnet Wohnheime. Wenn sie eure Wohnheime schließen, öffnet neue Häuser. Wenn sie eure Schulen schließen, gründet eine Universität. Wenn sie eure Universität schließen, gründet zehn neue Schulen. Ihr dürft nie aufhören zu marschieren.“
Schon früher soll Gülen folgendes gesagt haben, was er bestreitet: „Ihr müsst euch in den Arterien des Systems bewegen, ohne dass jemand eure Anwesenheit bemerkt, bis ihr alle Machtzentren erreicht habt. … Ihr müsst warten, bis ihr alle Macht im Staat habt, bis ihr die ganze Macht der verfassungsmäßigen Institutionen der Türkei auf eurer Seite habt.“
Gülen wurde deswegen angeklagt – und floh nach Amerika, wo er bis heute geblieben ist. Er wurde am Ende vom Vorwurf einer „Infiltration des Militärs“ freigesprochen. mehr Informationen
Nun versteht man auch, warum so viele Lehrer entlassen werden.
Erdoğan hat es geschafft, den meisten Türken Wohlstand zu bringen – und dafür verehren sie ihn. Er hat der Nation neues Selbstbewusstsein verschafft. Doch es ist nicht mehr die Türkei, die 1926 die Scharia durch das Schweizerische Zivilgesetzbuch ersetzte und die Nation, die fortschrittlich orientiert bereits 1935 vor vielen westlichen Staaten das Frauenwahlrecht einführte.
Der dreimonatige Ausnahmezustand in der Türkei dient nach Regierungsangaben der Verfolgung der als Drahtzieher des Putschversuchs beschuldigten Gülen-Bewegung. Dies erklärte Vize-Ministerpräsident und Regierungssprecher Numan Kurtulmus.
7543 Verdächtige wurden festgenommen, darunter 6038 Soldaten, 755 Staatsanwälte und Richter und hundert Polizisten. Insgesamt wurden über 50’000 Angestellte aus dem öffentlichen Dienst suspendiert, entlassen oder verhaftet.
Die Presseausweise von 34 Journalisten wurden eingezogen. Der Zugang zu mehr als 20 Nachrichten-Webseiten sei gesperrt. Ein Journalist sei wegen seiner Berichterstattung über den Putsch festgenommen worden.
Die Telekommunikationsbehörde RTÜK entzog insgesamt 24 Radio- und Fernsehstationen die Sendelizenz. Die Behörde teilte mit, bei den Sendern sei festgestellt worden, dass sie Verbindungen zur Bewegung Gülens hätten.
Die türkische Regierung will 21’000 Lehrern an Privatschulen die Genehmigung entziehen. Das berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Ihnen werde vorgeworfen, Beziehungen zu dem in den USA lebenden Geistlichen Fetullah Gülen zu haben. Die Regierung forderte zudem den Rücktritt von 1577 Universitäts-Dekanen und stoppte alle Auslandseinsätze für staatliche Akademiker. Zusätzlich wurden Tausende weiterer staatlicher Angestellter in verschiedenen Ämtern entlassen. Allen wird vorgeworfen, Gülen zu unterstützen.
Die Schweizerische Vereinigung der Richterinnen und Richter (SVR) spricht von einem schweren Schlag gegen die Unabhängigkeit der Justiz und gegen die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei.
Erdoğan s Vorgehen gegen echte und vermeintliche Gegner in Militär, Politik, Justiz und Polizei verschreckt die globalen Investoren. Auch die offene Konfrontation mit den USA und die Pläne zur Wiedereinführung der Todesstrafe irritieren die internationalen Geldgeber.
Mit dem Ausnahmezustand kann nun Erdoğan die Grundrechte außer Kraft setzen, Versammlungen untersagen, per Dekret am Parlament vorbeiregieren, Medien-Berichterstattung kontrollieren und verbieten, Vermögen einziehen, Ausganssperren verhängen.
Die Türkei setzt nach der Verhängung des Ausnahmezustands auch die Europäische Menschenrechtskonvention aus.
Die Ausrufung des Ausnahmezustands bedeutet ein vollständiges Durchregieren von Staatspräsident Erdoğan. In dieser Situation haben seine Verordnungen direkt Gesetzeskraft, die Erlasse können selbst durch das Verfassungsgericht nicht aufgehoben werden. Das Parlament ist faktisch außer Kraft gesetzt.
Erdogananhänger machen unterdessen weltweit Jagd auf seine Kritiker. Auch in der Schweiz rufen sie auf Facebook und auf Whatsapp dazu auf, Regimekritiker zu melden. siehe 20Min
UETD Austria hat am Wochenende eine Nachricht verbreitet, in der es heißt, man solle Social-Media-Profile von Personen melden, die ‚terroristische und sonstige kriminelle Inhalte‘ verbreiten. Österreichische Politiker sind empört. SPÖ-Klubchef Andreas Schieder „Wir dulden in unserem Land keine Hetze, egal von welcher Seite. Wir dulden keine Vermischung von Religion und Politik. Wir dulden nicht, dass der Konflikt in der Türkei nach Österreich getragen wird – schon gar nicht begleitet von Gewalt, Verwüstung und Körperverletzung.“
Die Regierungspartei AKP hat das Denunziantentum in den letzten zwei bis drei Jahren institutionalisiert, etwa mit speziellen Hotlines, über die Mitbürger angeschwärzt werden können. Neu ist jedoch in diesem Fall, dass die Aufforderung zum Denunzieren durch die sozialen Medien neue Bevölkerungsgruppen erreicht. Dass sich das Denunziantentum bis nach Westeuropa ausbreitet, ist ebenfalls ein bisher unbekanntes Phänomen. Vor allem Deutschland ist durch die grosse türkische Diaspora mit Wählern der Regierungspartei AKP stark betroffen. Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» berichtet über Denunzierungs-Aufforderungen gegen Anhänger der Gülen-Bewegung in sozialen Medien in Deutschland – inklusive Telefonnummer einer Hotline des Präsidialamtes in Ankara.
Der türkische Botschafter ad interim in der Schweiz, Volkan Karagöz, sagte an der Pressekonferenz, er sei sich bewusst, dass die Schweiz eine andere Definition von Terrororganisationen habe. «Es ist aber gut möglich, dass unsere Regierung Gülen-Anhänger in der Schweiz ausmacht und ein Verfahren gegen sie eröffnet». Die Gülen-Bewegung wurde von der türkischen Regierung 2015 als terroristische Organisation eingestuft.