Schlagwort-Archive: Russland

Orwells 1984 im 2022

Bei einer öffentlichen Veranstaltung sorgte Maria Sacharowa des russischen Außenministeriums für Empörung. Sie verglich das Leben in demokratischen Ländern mit George Orwells „1984“.

George Orwells Dystopie-Klassiker „1984“ ist ein Meilenstein der Literatur über die Gefahren von Totalitarismus, Unterdrückung und Überwachung – so interpretieren es zumindest die meisten – inklusive Orwell selbst. Doch spätestens seitdem Russland die Ukraine überfallen hat, tut der Kreml offenbar alles dafür, den Westen zu diffamieren – und sei es mit einer völlig aus der Luft gegriffenen Interpretation eines knapp 80 Jahre alten Buchs.

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Russlands Suche nach seiner Identität

Putin redet viel von der russischen Identität. Nur weiß keiner, worin die besteht, sagt der Philosoph Boris Groys in Zeit de.

Auch heute sehen viele Russland als das zeitgenössische Byzanz, als Hort des wahren Christentums – und den Westen als Feind, der mit seinen Kreuzzügen Konstantinopel zerstörte und jetzt sein Erbe zunichtemachen will.

Russland sei der einzig verbliebene Ort der Wahrheit in der Welt. Verteidigte man schon Byzanz als das wahre Erbe Roms, wird auch der heutige Westen als dekadente Verfälschung seines ursprünglichen Selbst gesehen. Der Westen selbst habe durch Multikulturalismus, LGBTQ-Ideologie und allgemeine Dekadenz nämlich seine Wurzeln verraten.

Man weiß, wer der Feind ist und dass man gegen ihn irgendwas verteidigen soll, aber was das exakt ist, weiß man nicht. Russlands Suche nach seiner Identität weiterlesen

Russland zelebriert am 9. Mai sein Selbstverständnis

Anstelle eines Gedenktages zum Kriegsende ist Russland dazu übergegangen, den Krieg zu rühmen. Der Siegeskult ist eine Staatsideologie geworden. Der Heldenmythos muss nicht einmal der Realität entsprechen – er ist Gegenstand eines blinden Glaubens. In den letzten zwanzig Jahren hat der Tag des Sieges alle Züge eines religiösen Kults angenommen. Russland zelebriert am 9. Mai sein Selbstverständnis weiterlesen

Was bewirken die Sanktionen

Glaubt man Wladimir Putin, dann richten die westlichen Sanktionen in Russland keinen nennenswerten Schaden an. Die Zentralbank sieht das allerdings anders.

„Die Sanktionen wirken massiv, aber sie sind kein Blitzkrieg„, bilanziert Russland-Kenner Bernd Ziesemer, langjähriger Chefredakteur des „Handelsblatt“ und „Capital“-Kolumnist im Podcast „Die Stunde Null“. „Es braucht Zeit, bis sich der Effekt voll zeigt. Wenn man sich vor Ort umhört, außerhalb von Moskau oder St. Petersburg in den Industriestädten im Ural, erfährt man, dass die Sanktionen die Firmen genau und hart treffen.“ Viele Transporte finden nicht mehr statt, Flugzeuge und Schiffe mit Ersatzteilen oder Maschinen fehlen. Deutschland etwa liefert keine Werkzeugmaschinen mehr.

Zwischen 8 und 15 Prozent, je nach Schätzung und Quelle, könnte die russische Wirtschaft in diesem Jahr einbrechen.

Die Inflation in Russland ist auf 17,5 Prozent gestiegen, manche Experten prognostizieren, sie könne bis Jahresende auf bis zu 30 Prozent klettern. Was bewirken die Sanktionen weiterlesen

Imperium contra Nationalstaat

Als realitätsfern, gar als verrückt haben Beobachter Wladimir Putin nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine bezeichnet. Doch die Wirklichkeit ist schlimmer, denn Russlands Präsident ist sich wohl bewusst, was er tut. Diese Einschätzung trifft mit Jörg Baberowski einer der renommiertesten Osteuropa-Historiker.

Wir wissen wenig darüber, was im Kreml geschieht. Die Inszenierung verborgener Staatlichkeit, die in Russland seit Peter dem Großen als Tradition fest verankert ist, erfüllt immer noch ihren Zweck.

Manches lässt sich aus Putins Lebensweg herauslesen. Nach Imperium contra Nationalstaat weiterlesen

Ehrenbegräbnis für Putins Kriegs-Propheten

Bei einer Trauerfeier (Do 7.4.22) haben der russische Präsident Wladimir Wladimirowitsch Putin und Tausende Menschen vom Politiker Wladimir Schirinowski Abschied genommen. Er zeigte sich nach längerer Abwesenheit das erste Mal wieder in der Öffentlichkeit. Er legte einen Strauß roter Rosen an Schirinowskis offenem Sarg ab und verneigte sich. Ehrenbegräbnis für Putins Kriegs-Propheten weiterlesen

Kapitulation – eine Option?

Die Kapitulationsforderung an die Ukraine ist absurd.

Folgt man dieser Logik, hätte die Welt, als Hitler 1941 seinen Ostfeldzug begann, die Russen sofort zur Kapitulation auffordern müssen. Der Kampf gegen den Aggressor schien damals ebenfalls aussichtslos, jedenfalls einige Monate lang, er kostete Millionen Sowjetbürger das Leben. Wie würde die Welt dann heute aussehen?

Der so schön klingende Satz vom Frieden, den es nur ohne Waffen gibt, ist leider nicht Realität. Sogar die Schweizer Eidgenossen haben für Freiheit und Unabhängigkeit gekämpft.

Das Unrealistischste an der Kapitulationsdebatte ist jedoch die Annahme, schnelles Einlenken würde den Aggressor besänftigen. Als die Sowjetunion im September 1939 gemeinsam mit Hitler nach Polen einmarschierte, ergaben sich die Polen den Sowjets weitgehend kampflos. Geholfen hat ihnen das nicht: Hunderttausende wurden nach Sibirien deportiert, Zehntausende vom sowjetischen Geheimdienst erschossen. Kapitulation – eine Option? weiterlesen

Wiedergeburt einer Ideologie

2012 folgte Putin in einer Rede den Gedanken Iwan Iljins und kündigte an: „Eurasien“ werde die Europäische Union „überwinden“ und deren Mitglieder in ein größeres Gebilde integrieren, das „von Lissabon bis Wladiwostok“ reiche.

Der frühere russische Staatschef Dmitri Medwedew stimmt sein Land auf einen längeren Kampf gegen die Ukraine ein. Präsident Wladimir Putin habe als Ziel die „Demilitarisierung und Entnazifizierung“ der Ukraine ausgegeben, schrieb Medwedew am Dienstag 5.4.22 auf seinem Telegram-Kanal. „Diese schwierigen Aufgaben sind nicht auf die Schnelle zu erfüllen.“ Noch schärfer als Putin in seinen öffentlichen Äußerungen setzte Medwedew die Ukraine mit dem nationalsozialistischen Dritten Reich gleich. Es wäre nicht verwunderlich, wenn die Ukraine das gleiche Schicksal erleiden würde wie das Dritte Reich, schrieb er: „Das ist der Weg für so eine Ukraine.“ Aber der Zusammenbruch könne den Weg für „ein offenes Eurasien von Lissabon bis Wladiwostok“ öffnen.

Der russische Philosoph Iwan Iljin (1883–1954) glaubt nie an das Gute im Menschen. Der Individualismus ist für ihn satanisch. Russlands Aufgabe sieht er in einer göttlichen Totalität, sein historischer Auftrag wäre es demnach, die verpfuschte Schöpfungsgeschichte zu retten. Im Faschismus erkennt er „ein rettendes Übermaß an patriotischer Willkür“.  Die Rede ist von einem antidemokratischen Staat, einer „erzieherischen und wiedergebärenden Diktatur„.

Im Essay „Was der Welt die Zerstückelung Russlands verspricht“ behauptet Iljin, der imperialistische Westen werde das falsche Versprechen von Freiheit nutzen, um Russland Länder wegzunehmen: das Baltikum, den Kaukasus, Zentralasien und vor allem „die ›Ukraine‹„. Der Westen wolle eine Balkanisierung Russlands, um das Reich zu zerstören. Von diesem Text ist auch Wladimir Putin fasziniert. Seit 2005 taucht Iljin wiederholt in wichtigen Reden auf.

2014, zur Vorbereitung der Annexion der Krim, ließ Putin allen höheren Beamten und Regionalgouverneuren ein Exemplar von Unsere Aufgaben zukommen, dem zentralen Sammelband mit Iljins Aufsätzen. Putin riet seinen Kadern, sie sollten Lenin weglegen und ab jetzt Iljin studieren.

Wahlen sollten ein Ritual der Unterwerfung der Russen unter ihren Führer sein. Weil die legitime, wirkliche Macht, so die Überzeugung von Iljin, „von ganz allein zum starken Mann“ komme. mehr Informationen

In den achtziger Jahren erhielt Iljin seinen entscheidenden Leser und Schüler: den im DDR-Dresden stationierten sowjetischen Geheimdienstler Wladimir Putin. Zu seinen Aufgaben gehörte die Sichtung der russischen Exilliteratur in deutscher Sprache. KGB-Oberstleutnant Putin bgeisterte sich für Iljins Vision von einem wieder grossmächtigen, durch einen erleuchteten Führer geleitetes Russland. Dieses Konzept hat er gleich 1990 bei seiner Rückkehr nach Petersburg mitgebracht, es von Anfang an zielstrebig Schritt um Schritt verwirklicht. Mitten im Weltkrieg 1944 erschien das programmatische Werk für ein nachkommunistisches Russland: «Wesen und Eigenart der russischen Kultur», verlegt in Affoltern am Albis.

Wladislaw Inosemzew ist russischer Ökonom und Soziologe. Er schreibt in einem Artikel der NZZ vom 10. März 2022: «Der Faschismus ist das, was folgt, nachdem sich der Kommunismus als Illusion erwiesen hat

Putin bezeichnete den Zusammenbruch der Sowjetunion einst als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“.

Im Jahr 2004 formulierte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Matthew Lyons folgende Faschismusdefinition: Wiedergeburt einer Ideologie weiterlesen

Muster russischer Kriege

Ein Blick zurück zeigt, dass wir es jetzt keineswegs mit einem neuartigen Krieg des russischen Präsidenten zu tun haben. Der Krieg, der am 24. Februar 2022 begann, ordnet sich ein in eine Kontinuität von Kriegen, wie sie das Zarenreich und die Sowjetunion gegen die Gesellschaften des eigenen Reichs oder angrenzender Regionen immer dann führten, wenn diese die Machtstellung des autokratischen Zentrums zu bedrohen schienen. Es ist nicht nur Putins Krieg. Es ist der Krieg eines autokratischen Systems gegen jene Nachbarn und jene Zivilbevölkerung, die dieses System ablehnen. Ein Krieg auf ein unabhängiges Überleben oder Tod. Muster russischer Kriege weiterlesen

Orthodoxer Priester wegen Antikriegspredigt verurteilt

Ein Gericht in der Region Kostroma in Russland hat Pater Ioann Burdin, einem russisch-orthodoxen Priester, der nach einer Antikriegspredigt am Sonntag, dem 6. März in der Stadt Karabanovo, festgenommen und eine ziemlich hohe Geldstrafe von 35.000 Rubel * auferlegt. Sie beschuldigten ihn der „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“ nach dem neuen Artikel 20.3.3 § 1 des russischen Ordnungswidrigkeitengesetzes. Orthodoxer Priester wegen Antikriegspredigt verurteilt weiterlesen

Das Reich von Putin dem Großen

Fern der Realität, in einem anderen Universum, paranoid – so schätzt Nina Chruschtschowa, Urenkelin des Stalin-Nachfolgers Nikita Chruschtschow, Russlands Präsidenten ein. Die Politologin hat Putin studiert, sagt, wie er tickt und was er wirklich will. (Bild: Außenminister Sergei Lawrow beim Gespräch mit Russlands Präsident Wladimir Putin – fern von allem)

Putins Krieg ist ein Ein-Mann-Krieg. Der Krieg eines Diktators, der in seiner eigenen Welt lebt, sagt Nina Chruschtschowa. „Nichts davon ist logisch oder rational kalkuliert. Doch es ist im Rahmen dessen, wie der Verstand eines Diktators funktioniert.“ Das Reich von Putin dem Großen weiterlesen