Dass es dem Kreml in den sechs Wochen seit seinem Strategiewechsel nicht gelungen ist, die dringend benötigten Verstärkungen ins Kriegsgebiet zu bringen, entlarvt grundlegende Schwächen.
Vor dem Krieg dominierte in der westlichen Öffentlichkeit, ja sogar unter vielen Militärexperten die Annahme, dass Russland der Ukraine militärisch haushoch überlegen sei. Auf dem Papier trifft dies auch zu. Die russischen Aktivstreitkräfte umfassen etwa 900 000 Mann, hinzu kommen 2 Millionen ehemalige Wehrdienstleistende, die als Reservisten aufgeboten werden könnten. In den Krieg gezogen ist Russland jedoch nur mit 160 000 bis 180 000 Mann. Westliche Schätzungen sprechen von 15 000 Todesopfern und dem Zwei- bis Dreifachen an Verwundeten, Vermissten und Gefangenen. Das hieße, dass ein Viertel bis zu einem Drittel der ursprünglichen Invasionsarmee nicht mehr verfügbar ist.
Die russischen Soldaten leiden unter schlechter Führung, niedriger Moral und viele wissen nicht, wofür sie kämpfen.
Putins Invasionsarmee besteht aus Zeit- oder Berufssoldaten. Sie heißen in Russland Kontraktniki, weil sie einen «kontrakt» unterschrieben haben, einen Vertrag für eine befristete Anstellung bei den Streitkräften. Nichts weist auf eine Welle des Patriotismus hin, die junge Männer massenhaft in die Aushebungsbüros treiben würde.
Die Srotschniki dagegen haben für die Militärführung einen großen Nachteil. Gemäß geltenden Regeln dürfen sie nicht in Kriegsgebiete geschickt werden, auch nicht in den Kampf gegen die vermeintlichen Nazis in der Ukraine, der nach offizieller Lesart lediglich eine «militärische Spezialoperation» ist. Als in diesem Frühjahr dennoch Fälle von russischen Grundwehrdienstleistenden in der Ukraine bekannt wurden, griff Präsident Putin durch und setzte Strafuntersuchungen in Gang. Das zeigt, um welch heißes Eisen es sich handelt; der Kreml fürchtet den politischen Unmut in der Bevölkerung gegenüber der Entsendung von unerfahrenen Dienstpflichtigen an die Front.
Für Männer aus ärmeren Teilen Russlands kann die militärische Laufbahn finanziell attraktiv sein. Ein kontaktniki Soldaten erhält 300 Franken, anstatt einem Franken Sold pro Monat. Trotz dem rosigen Bild der Propaganda verbreitet sich die Kunde von der blutigen Realität in der Ukraine. Laut unbestätigten Berichten hat die Militärverwaltung große Mühe, neue Kontraktniki zu finden oder bestehende Verträge zu verlängern.
Dies stellt den Kreml vor die Wahl zwischen zwei Übeln: Er kann die Offensive entweder mit den verfügbaren Streitkräften weiterführen; dann laufen die Russen laut dem Militärexperten Konrad Muzyka jedoch Gefahr, zu scheitern und Opfer von Gegenangriffen der zunehmend besser ausgerüsteten Ukrainer zu werden. Oder Putin ordnet eine Teil- oder gar eine Generalmobilmachung an. Damit könnten auch Wehrdienstleistende und Reservisten zum Kriegseinsatz herangezogen werden.
Politisch wäre dies jedoch riskant. Putin müsste die Fiktion einer ganz nach Plan verlaufenden «Spezialoperation» fallenlassen und den Kriegszustand ausrufen. Es wäre ein Eingeständnis des bisherigen Scheiterns. Hinzu kommt die Ungewissheit, ob eine Mobilmachung die russische Kampfkraft wirklich entscheidend verbessern würde. Der Militärexperte Rob Lee weist auf den schlechten Ausbildungsstand der Reservisten hin. Mehr Personal ist zudem keine hinreichende Voraussetzung für größere Kampfkraft. Grundprobleme wie verfehlte Taktik, Schwächen in der Kommandostruktur, in der Kommunikation und bei der Logistik sowie der Verlust von mehr als 1800 Panzerfahrzeugen lassen sich damit nicht ausgleichen. Das wahrscheinlichste Szenario ist daher, dass Putin sich auf eine Teilmobilmachung beschränken wird. mehr Informationen
Die Söldnergruppe Wagner, die an der Seite von Russland in der Ukraine kämpft, hat auf einem von ihr betriebenen Telegram-Channel mehr Soldaten gefordert, um den Krieg zu gewinnen. «Um die Ukraine zu besiegen, brauchen wir 600’000 bis 800’000 Soldaten», heißt es im entsprechenden Post. «Es wird eine Mobilisierung geben oder wir werden den Krieg verlieren.»