Sind Putin und seine engsten Gefolgsleute tatsächlich bereit, als Erste Kernwaffen einzusetzen?, fragt Reinhard Wolf, Professor für internationale Beziehungen mit dem Schwerpunkt Weltordnungsfragen an der Goethe-Universität, in der NZZ.
Dafür spricht wenig. Der Einsatz taktischer Kernwaffen in der Ukraine würde Russlands Militär allenfalls dann spürbar helfen, wenn eine grössere Zahl von Zielen angegriffen würde. Dies würde aber die Operationen nachfolgender Besatzungstruppen behindern, die ukrainische Bevölkerung und die Weltöffentlichkeit noch stärker gegen Russland aufbringen und vor allem auch die Gefahr heraufbeschwören, dass die Nato zumindest konventionell eingreift.
«Make Russia great again» ist bis heute Putins unausgesprochener Leitsatz. Weite Teile der Bevölkerung messen die Grösse Russlands genau wie Putin daran, ob ihr Land international gehört und gefürchtet wird. Wie Putin bis heute immer wieder betont, ist Russland während seiner tausendjährigen Geschichte vielfach geprüft worden. Wiederholt lag es am Boden. Aber immer ist es aufgestanden und hat zu neuer Stärke gefunden. Eine Vernichtung würde dem widersprechen. Natürlich würden Putin und seine Machtclique einen erheblichen Gesichtsverlust erleiden, falls in der Ukraine der Status quo ante wiederhergestellt würde. Russland wäre aber weiterhin ein handlungsfähiger Staat mit schlagkräftigen Nuklearstreitkräften.
Ganz anders sähe es nach einem nuklearen Schlagabtausch mit den Westmächten aus. Das mächtige Russland bliebe als radioaktive Wüste zurück, würde womöglich zerfallen und vermutlich in Teilen unter chinesische Kontrolle geraten. Russlands Staatlichkeit und Gesellschaft könnten für alle Zeiten vernichtet werden.
Ein eitler Nationalist wie Putin will auf keinen Fall als Totalversager in Erinnerung bleiben, als der Mann, der die tausendjährige Geschichte Russlands selbstmörderisch beendet hat, der aus dem «grossen» Reich einen jämmerlichen Schutthaufen gemacht hat, den andere unter sich aufteilen können. Das wäre genau das Gegenteil von dem, was er zu seinem Lebensziel gemacht hat. Oberste Priorität hat für ihn die Erhaltung eines starken Staates, der in der Lage ist, Russlands internationale Position auszubauen oder notfalls wiederherzustellen.
Leider folgt hieraus nicht, dass eine nukleare Auseinandersetzung zwischen Russland und der Nato ganz ausgeschlossen werden kann. Doch auch eine Nato, die sich von Russland die roten Linien diktieren liesse, würde ihre Mitglieder nicht mit Sicherheit vor dem Schlimmsten bewahren. Im Gegenteil: Sie würde ihre östlichen Mitglieder dem Kreml ausliefern und die übrigen der Gefahr aussetzen, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt in einen riskanten Krieg mit Russland verwickelt werden. mehr Informationen