Bei einer öffentlichen Veranstaltung sorgte Maria Sacharowa des russischen Außenministeriums für Empörung. Sie verglich das Leben in demokratischen Ländern mit George Orwells „1984“.
George Orwells Dystopie-Klassiker „1984“ ist ein Meilenstein der Literatur über die Gefahren von Totalitarismus, Unterdrückung und Überwachung – so interpretieren es zumindest die meisten – inklusive Orwell selbst. Doch spätestens seitdem Russland die Ukraine überfallen hat, tut der Kreml offenbar alles dafür, den Westen zu diffamieren – und sei es mit einer völlig aus der Luft gegriffenen Interpretation eines knapp 80 Jahre alten Buchs.
Maria Sacharowa, Diplomatin und Sprecherin des russischen Außenministeriums behauptete am Samstag 21.5.22 auf einer öffentlichen Veranstaltung: „Viele Jahre lang haben wir geglaubt, dass Orwell die Schrecken des Totalitarismus beschrieben hat. Dies ist einer der größten globalen Fakes … Orwell schrieb über das Ende des Liberalismus.“ Er habe beschrieben, wie der Liberalismus die Welt in eine Sackgasse führt, so Sacharowa weiter.
Der Brite Orwell schrieb sein wohl bekanntestes Buch zwischen 1946 und 1948. Seit seiner Veröffentlichung 1949 gilt es als eines der prägendsten Science-Fiction-Romane der Neuzeit. Die Welt die Orwell beschreibt vereint die diktatorische Machtstruktur faschistischer Regime mit den gesellschaftlichen Normen streng sozialistischer Staaten. Schon kurz nach dem Erscheinen des Romans zogen Kritiker und Leser klare Parallelen zu der NS-Diktatur in Deutschland und dem stalinistischen Russland.
Zentrale Motive in Orwells Geschichte sind die der totalen Überwachung und der Propaganda. Durch letztere wird die Bevölkerung auf Kurs gehalten und von innenpolitischen Problemen, wie mangelnder Versorgung abgelenkt. Dabei wird durch ein eigens dafür konzipiertes „Ministerium für Wahrheit“ die Geschichte verfälscht, gekürzt oder umgeschrieben und auf einen jeweils passenden Feind bezogen.
Die Propaganda geht dabei bis zu einer Gehirnwäsche, durch die die Bürger des Staates nicht einmal mehr das glauben, was sie selbst sehen oder was wissenschaftlich belegt ist – im Zweifel weiß die Regierung es besser als man selbst. Presse- oder Wissenschaftsfreiheit existieren nicht. Wer auf Regierungslinie bleibt, führt ein ärmliches Leben, ohne zu begreifen, dass es ihm an den grundlegendsten Dingen fehlt, wer aufbegehrt wird gefangen genommen und solange gefoltert, bis er der Führung folgt oder getötet.
Sacharowa ging auf der genannten Veranstaltung auf eine Frage eines Zuschauers ein, wie man als russischer Staatsbürger reagieren solle, wenn Verwandte oder Bekannte im Westen Russland mit der dystopischen Welt aus Orwells Roman vergleichen. Die Diplomatin wütete: „Orwell hat nicht über die UdSSR geschrieben, es ging nicht um uns. Er schrieb über die Gesellschaft, in der er lebte, über den Zusammenbruch der Ideen des Liberalismus.“ Und fügt hinzu, Russen sollten ihren Bekannten sagen: „Sagen Sie ihnen: Ihr im Westen lebt in einer Fantasiewelt, in der ein Mensch einfach so gecancelt werden kann.“
Mit Blick auf die Massenverhaftungen bei Anti-Kriegs-Demonstrationen in Russland während der ersten Tage der Invasion wirkt dies mehr als zynisch. Während der Kreml den Krieg bis heute als „Spezialoperation“ tituliert und behauptet, die Ukraine müsse „entnazifiziert“ werden, und Russland würde sich nur gegen einen Aggressor verteidigen, kam vielen das zentrale Mantra des Regimes in „1984“ in den Sinn: „Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke„.
Trotz oder vielleicht wegen dieser Propaganda-Anstrengung stiegen in den vergangenen Monaten die Verkaufszahlen von „1984“ in Russland stark an – bis zu 75 Prozent. Ähnliches war in Belarus im Laufe des vergangenen Jahres zu beobachten, als der belarussische Staatsapparat immer rabiater gegen pro-demokratische Demonstranten vorging. Das Buch wurde schließlich in Belarus verboten.
Viktor Golyshev, ein prominenter Sprachwissenschaftler, der den Roman ins Russische übersetzt hat, widersprach Sacharowas Behauptungen und sagte, der Roman handele „keineswegs“ vom Niedergang des Liberalismus. „Zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg gab es in halb Europa totalitäre Regierungen. Zu dieser Zeit gab es keinen Niedergang des Liberalismus, ganz und gar nicht“, so der Übersetzer.
Bereits 2019 erklärte der russische Präsident Wladimir Putin der Financial Times, er halte den Liberalismus für „obsolet“ (nicht in die Zeit passend).
Und was sagte der Autor selbst zu seinem Werk? „Jede Zeile meiner ernsthaften Arbeit, die ich seit 1936 geschrieben habe, war direkt oder indirekt gegen den Totalitarismus und für den demokratischen Sozialismus, wie ich ihn verstehe.“ mehr Informationen
Der 1948 fertiggestellte Roman spielt auf die historische Entwicklung in der Sowjetunion unter Stalin an. Da sich die englische Linke zunehmend mit dem Sozialismus sowjetischer Prägung anfreundete, fürchtete Orwell eine Ausbreitung totalitären Denkens. 1984 prangert sowohl den Imperialismus wie auch die gesellschaftlichen Missstände an, die Orwell in seiner englischen Heimat vorfand. Zahlreiche Begriffe und Wendungen des Werks sind in den alltäglichen Sprachgebrauch eingegangen. Am bekanntesten: „Big Brother is watching you.“ mehr Informationen
Stalin hat mit dem „Holodomor“ 3-7 Millionen Urkrainer verhungern lassen. Bis zu 60 Millionen Menschen könnten während Stalins Regime ihr Leben gelassen haben.
Die russische Führung weiß genau, wie sie die Debatten im Westen manipulieren kann. Wenn der russische Außenminister Sergei Lawrow über die Gefahr eines dritten Weltkriegs spricht, Russlands Präsident Wladimir Putin „Konsequenzen, wie man sie noch nicht gesehen hat“ androht oder er von „Faschisten in der Ukraine“ redet, dann werden diese Worte russischer Führungseliten nicht nur in den deutschen Medien prominent zitiert. Sie rufen Ängste vor einem Atomkrieg hervor, es wird ernsthaft diskutiert, ob es tatsächlich Faschisten in der Ukraine gibt und ob Russland nicht in der Ukraine einmarschiert ist, weil es von der Nato provoziert worden sei. Diese Diskussionen in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit sind das Ergebnis von Desinformationen, die gezielt durch die russische Führung verbreitet werden. Als ehemaliger KGB-Agent weiß Präsident Putin sehr genau, was Zersetzung und Propaganda bedeuten und bewirken kann. Der Gegner soll verunsichert werden, abgelenkt von den eigentlich wichtigen Fragen – und stattdessen Debatten führen, die künstlich erzeugt werden. Sie sind Teil einer umfassenden Manipulationsstrategie im europäischen und internationalen Informationsraum. mehr Informationen
Auch Xi Jinping riskiert die Zukunft Chinas. Seine Seidenstraße mündet in einer Sackgasse (Transitländer sind kriegsgefärdet). Seine Verachtung für die USA bremst das Wachstum. Seine Coronapolitik treibt europäische Unternehmen aus dem Land. Es ist ein Entwurf, der die Priorisierung westlicher Werte (Konkurrenz, Individualität, Menschenrechte) scharf in Frage stellt und das Paradox einer totalen Weltinnenpolitik zum Wohle (und Wohlstand) des größten denkbaren Kollektivs feiert: der Menschheit eben. Warum riskiert China mit seiner Null-Covid-Politik den Zusammenbruch der Wirtschaft? Oder kommt die Pandemie Xi am Ende sogar gelegen zwecks Verfeinerung seines orwellschen Kontrollregimes? mehr Informationen