Ein Blick zurück zeigt, dass wir es jetzt keineswegs mit einem neuartigen Krieg des russischen Präsidenten zu tun haben. Der Krieg, der am 24. Februar 2022 begann, ordnet sich ein in eine Kontinuität von Kriegen, wie sie das Zarenreich und die Sowjetunion gegen die Gesellschaften des eigenen Reichs oder angrenzender Regionen immer dann führten, wenn diese die Machtstellung des autokratischen Zentrums zu bedrohen schienen. Es ist nicht nur Putins Krieg. Es ist der Krieg eines autokratischen Systems gegen jene Nachbarn und jene Zivilbevölkerung, die dieses System ablehnen. Ein Krieg auf ein unabhängiges Überleben oder Tod.
1845 hatte die russische Regierung über ein Viertel ihrer gesamten Armee, damals die größte der Welt, am Fuß des Kaukasus konzentriert – dort kämpften 200 000 russische Soldaten gegen etwa 40 000 kaukasische Milizsoldaten. Doch auch dieses krasse militärische Ungleichgewicht führte in den Bergen des Kaukasus nicht zum Erfolg. Erst der gezielte Angriff auf die kaukasische Zivilbevölkerung durch eine neuartige ökologische Kriegführung drehte das Blatt.
Neben die Asymmetrie der Gegner, neben den geplanten Angriff auf die Zivilbevölkerung trat im Kaukasus im 19. Jahrhundert ein weiteres Kennzeichen von Russlands Kriegen an seinen Rändern: fließende Übergänge zwischen Krieg und Frieden, wie wir sie seit seit 2014 auch im Donbass beobachten konnten.
Nationale Kommunisten und ukrainische Bauern erhoben sich 1932 gegen die Zwangskollektivierung und schienen Stalins Kontrolle über die ukrainische Sowjetrepublik zu gefährden. Bauern und Ukrainer sollten dafür bestraft werden. Das Dorf als Verkörperung von beidem wurde zum zentralen Angriffsziel.
Diesmal war der Hunger das Instrument der Kriegführung. Alle Dörfer mussten einen Getreidezoll abliefern, der ihnen selbst kaum etwas zum Essen übrigließ. Der gesamte Lebensmittelhandel mit der ukrainischen Landbevölkerung wurde eingestellt. Als Hunderttausende von Bauern nach Weißrussland flohen, riegelten sowjetische Truppen die Ukraine militärisch ab, um Flucht zu unterbinden und keine Information über das Sterben nach außen dringen zu lassen. Ende 1933 waren rund fünf bis sechs Millionen Ukrainer durch Aushungerung getötet worden.
Der sowjetische Hungerkrieg gegen die Ukraine war bis 1990 im Westen wenig bekannt. Bereits während des Massensterbens verboten die sowjetischen Behörden den Begriff „Hungertod“ und wer das Wort benutzte, dem drohten fünf Jahre Gefängnis. Zum anderen vernichteten die sowjetischen Behörden die Sterbebücher der Jahre 1932/33, was ein wichtiger Schritt zum Verdecken der Tatsachen war.
Als in Deutschland und in der „New York Times“ erste Berichte erschienen, verbot die Moskauer Regierung allen ausländischen Journalisten und Beobachtern den Zugang zur Ukraine. Damals galt die Ukraine nicht nur Stalin, sondern auch im Westen nicht als eigenständige Nation, sondern lediglich als integraler Teil Russlands. Im Hungerkrieg gegen die ukrainischen Dörfer zeigte sich das Muster von Russlands Kriegen vielleicht am schärfsten. mehr Informationen
Am Eingang des Gedenkparks in Kiew steht eine Skulptur eines extrem dünnen Mädchens mit sehr traurigem Blick, das eine Handvoll Weizen in den Händen hält. Hinter ihrem Rücken befindet sich die Kerze der Erinnerung. Dieses Denkmal erinnert an den Holodomor.
Um die Kontrolle über Europas Hauptgetreidequelle nicht zu verlieren, nahm Stalin 1932 den ukrainischen Bauern das Getreideland und auch das gesamte Getreide weg, wodurch eine künstliche Hungersnot entstand. Ziel war es, „den Ukrainern beizubringen, klug zu sein„, damit sie sich nicht länger gegen Moskau stellen würden. Die Menschen, die in Europa das meiste Getreide produzierten, blieben so ohne einen Krümel Brot.
Der Höhepunkt des Holodomor war im Frühjahr 1933. In der Ukraine starben damals jede Minute 17 Menschen an Hunger, jede Stunde mehr als 1.000 und jeden Tag fast 24.500! Die Menschen verhungerten buchstäblich auf den Straßen.
Stalin siedelte Russen in den leergeräumten ukrainischen Dörfern an. Während der nächsten Volkszählung gab es einen enormen Bevölkerungsmangel. Deshalb annullierte die Sowjetregierung die Volkszählung, zerstörte die Volkszählungsdokumente und die Volkszähler wurden erschossen oder in den Gulag geschickt, um die Wahrheit zu verbergen.
Heute stellen 28 Länder auf der ganzen Welt den Holodomor als Völkermord an den Ukrainern dar. In der Schule konnte man nichts darüber lernen, weil fast alle Beweise vernichtet und die Opfer jahrzehntelang vertuscht wurden. Bis heute werden Massengräber freigelegt.
Der Holodomor brach damals den ukrainischen Widerstand, aber er machte den Wunsch nach Unabhängigkeit der Ukraine von Russland ewig.
In der Ukraine darf erst seit dem Ende der sowjetischen Diktatur dieses Verbrechens gedacht werden. Inzwischen gibt es in den Städten und Dörfern des Landes mindestens 7100 Holodomor-Denkmäler, Gedenktafeln und Gedenkkreuze. Nach der friedlichen „orangen“ Revolution in der Ukraine 2004 wurden die KGB-Archive geöffnet und Dokumente der Behörden über Hungersnot und Terror veröffentlicht. „Wir kennen inzwischen die Namen von 880.000 Opfern“, erläutert die Museumsmitarbeiterin.
Nach 2004 warb die damalige Regierung in Kiew weltweit für die Sichtweise, wonach die Hungersnot ein sowjetischer Genozid an der ukrainischen Nation gewesen sei. Der US-Kongress verurteilte daraufhin in einer Resolution den „Hungersnot-Genozid“, andere Staaten verabschiedeten ähnliche Dokumente.
Die schärfsten Kritiker der Holodomor-These kommen naturgemäß aus Russland. Ihr wichtigstes Argument lautet, die Hungersnot habe auch außerhalb der Sowjetrepublik Ukraine Opfer gefordert, so im Süden Russlands und vor allem in Kasachstan, wo es allein zwei Millionen weitere Opfer gab. Zeitweise wurde die Holodomor-Debatte zum Politikum: So schrieb der damalige russische Präsident Dmitri Medwedjew 2008 mehreren Amtskollegen Briefe. Medwedjew warnte davor, sich die ukrainische Genozid-These zueigen zu machen. Für den Präsidenten Aserbaidschans hielt Medwedjew demnach ein besonderes Argument bereit: Wenn dieser anders verfahre, könne sein Land im Gebietsstreit mit dem benachbarten Armenien auf keinerlei Unterstützung Moskaus rechnen. mehr Informationen
Viele Syrer solidarisieren sich mit der Ukraine. Sie sind selbst vom russischen Militär bombardiert worden. „Ich fühle sehr mit den Menschen in der Ukraine mit„, sagt Huda Khayti. „Es ist schrecklich zu sehen, wie rücksichtslos Russland auch in der Ukraine vorgeht. Wladimir Putin macht was er will, keiner hat ihm jemals Grenzen gesetzt. Wir Syrer wissen wovon wir reden“, sagt die Leiterin eines Frauenzentrum in Idlib Stadt. Moskau intervenierte auf Bitten des Regimes in Damaskus. Anders als der Ukraine-Krieg war das Eingreifen Russlands damit formell nicht völkerrechtswidrig. „Die Gesamtheit der Geschehnisse in Syrien hätte die Frage aufwerfen müssen, in wie weit es geht, dass ein ständiges Mitglied des Weltsicherheitsrates gleichzeitig Kriegspartei ist und immer wieder über einen Krieg entscheiden darf, in den es selbst involviert ist„, sagt Bente Scheller, Leiterin des Nahost- und Nordafrika- Referats der Heinrich-Böll-Stiftung. Huda Khayti: „Durch die Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft in Syrien hat man Putin grünes Licht gegeben, auch woanders brutal vorzugehen.“ Ob Propagandakrieg, Einsatz von brutalen Söldnergruppen oder Kriegsverbrechen: „Putin konnte seine Waffen und Kriegsführungstechnik in Syrien ausprobieren„, sagt Bente Scheller. Mehr Information