Der Konflikt um die jüdische Identität Israels ist so alt wie der Zionismus. Mehr als 60 Jahre nach der Staatsgründung spitzt sich der Konflikt zwischen orthodoxen und säkularen Israelis erneut zu.
Es ist der 14. Mai 1948, als nur zwei Stunden vor der geplanten Proklamation des Staates Israel ein unerwarteter Streit zwischen den säkularen und religiösen Mitgliedern des provisorischen Staatsrates in Tel Aviv ausbricht. Denn während die Vertreter der religiösen Parteien darauf bestehen, Gott in dem Dokument zumindest zu erwähnen, sehen die sozialistisch-säkularen Zionisten darin ihr Recht auf Nichtgläubigkeit gefährdet. Man einigt sich schließlich in letzter Minute auf die doppelsinnige Formulierung „Fels Israels“. Manchmal kann ein Fels nämlich auch Gott sein, wie im zweiten Buch Samuel 23,3 oder im ersten Buch Mose 49, 24. In absichtlicher Zweideutigkeit heißt es also in der israelischen Unabhängigkeitserklärung: „Mit Zuversicht auf den Fels Israels setzen wir unsere Namen zum Zeugnis unter diese Erklärung.“ Die Staatsgründung ist gerettet.
Mehr als 60 Jahre später scheinen sich die Spannungen zwischen orthodoxen und säkularen Israelis nur noch verschärft zu haben. Wenn ultraorthodoxe Juden heute eine vollständige Geschlechtertrennung nicht nur in Autobussen fordern, wenn behinderte Kinder angegriffen werden, weil sie am Sabbat ihren elektrischen Rollstuhl benutzt haben, und wenn kleine Mädchen bespuckt werden, weil sie sich angeblich unzüchtig kleiden, dann ist das sehr problematisch. Droht Israel nun ein Kulturkampf zwischen Religiösen und Säkularen?
Die zionistische Bewegung entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf zwei eigentlich gegensätzliche Tendenzen innerhalb des europäischen Judentums. Einerseits wurden die Juden durch die weitgehende rechtliche Gleichstellung und das Entstehen der bürgerlichen Kultur immer stärker in die europäischen Gesellschaften integriert. Die fortschreitende Säkularisierung machte auch vor der jüdischen Gemeinschaft nicht halt. Die Religion als gemeinschaftsstiftendes Element drohte wegzufallen, Mischehen waren alltäglich geworden. Zionisten sahen in der Assimilation eine Gefahr für das Judentum.
Auf der anderen Seite bedrohte ein immer aggressiver werdender Antisemitismus eben jene Integrationsbestrebungen. Die zionistischen Führer sahen die Antwort auf diese Herausforderung in einem nationalen Judentum, dessen Hauptziel die „Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina“ sein sollte, wie es in der Abschlusserklärung des Kongresses der Zionistischen Weltorganisation 1897 in wunderbarem Beamtendeutsch heißt. Diese Ideen fußten deutlich auf dem nationalstaatlichen Gedankengut des 19. Jahrhunderts. Die traditionelle religiöse Sehnsucht der Juden nach „Zion“ hingegen spielte kaum eine Rolle.
Es lässt sich trefflich darüber streiten, ob die Juden ein Volk oder eine Nation oder doch eine Religionsgemeinschaft bilden. Sicher ist: Ohne Religion gäbe es keine Juden. Israel ist nach westlichen Maßstäben kein säkularer Staat. Doch mit ihrer offensichtlichen Verachtung des Rechtsstaates haben die randalierenden Orthodoxen auch bei religiösen Israelis eine Grenze überschritten.
Israel ist eine Sonderlösung: ein modernes Hightech-Land, in dem religiöse Traditionen staatstragende Funktion haben. Das mag man im aufgeklärten Europa zu Recht kritisieren. Auf der anderen Seite wäre schon viel gewonnen, wenn beispielsweise muslimische Länder in der Region einen ähnlich kunstvollen Spagat zwischen traditionell-religiöser Verankerung und weltoffener, liberaler Gesellschaft hinbekämen.