Die Klagemauer in Jerusalems Altstadt gilt vielen Juden als heiliger Ort. Auch Israels Premier Benjamin Netanjahu betont immer wieder, sie eine sein Volk: „Ein Volk, eine Mauer“ – so sein Slogan. Doch der Streit über die Gebetsriten vor Ort werden nun zu einem tiefen Graben zwischen dem Judenstaat und der Diaspora. Denn Netanjahu hat mit dem israelischen Kabinett über Nacht einen in jahrelangen Gesprächen mühsam ausgehandelten Kompromiss zwischen liberalen Strömungen und den Ultraorthodoxen auf Eis gelegt, den das Kabinett selbst im Januar 2016 beschlossen hatte.
Die Vereinbarung sah vor, dass dort alle nach ihrer Fasson beten dürfen. Die bereits bestehende, balkonartige Plattform sollte für das egalitäre Gebet am Robinson-Bogen am südlichen Teil der Westmauer weiter ausgebaut wird. Außerdem sollten Vertreter der Reform- und der Masorti-Bewegung an der Leitung der Gebetsstätte beteiligt werden. Zudem sollte ein Eingang zur Kotel für alle Beter entstehen, um zu unterstreichen, dass die Besucher die freie Wahl haben zwischen einem getrennten Gebet für Männer und Frauen oder einem gemeinsamen Gebet.
Stattdessen gewährte die Regierung jetzt den Ultraorthodoxen die absolute Macht – nicht nur an der Mauer, sondern in gleich mehreren kritischen Fragen. Die Beziehungen zwischen Israel und Juden in aller Welt befinden sich jetzt in der tiefsten Krise seit der Staatsgründung 1948.
Nathan Scharansky, Vorsitzender des Exekutivrats der Jewish Agency, erklärte: „Wir widmen uns fortan nur noch der Anstrengung, alle Parlamentsabgeordneten zu treffen, um ihnen klarzumachen, wie verheerend die Entscheidungen der Regierung sind.“ Die hätten Juden in aller Welt die Botschaft übermittelt: „Ihr seid nicht Teil von uns.“
Uriel Reichmann, Mitglied im Vorstand der Jewish Agency, forderte, alle Beziehungen zum Staat abzubrechen, denn „die Beschlüsse des israelischen Kabinetts kommen einer Kriegserklärung gegen den Zionismus gleich“.
Der Streit, der nun zutage trat, ist Teil eines Jahrtausend alten Kampfes zwischen unzähligen Rabbinern um die Deutungshoheit im Judentum.
Noch nie genossen die Ultraorthodoxen so viel Einfluss wie in Netanjahus jetziger, vierter Amtszeit. Davon machen sie uneingeschränkt Gebrauch.
Innerhalb von nur zwei Jahren setzten sie eine Reihe von Beschlüssen durch, die nicht-orthodoxe Juden erheblich benachteiligen oder marginalisieren. Den Anfang machte die Aufhebung der Wehrpflicht für Haredim (die „Gottesfürchtigen“, wie sich die Ultraorthodoxen selber nennen), die Netanjahu in seiner dritten Amtszeit erlassen hatte. Kurz darauf erhöhten die Haredim, die überdurchschnittlich viel Nachwuchs haben, das Kindergeld.
Im August annullierte die Regierung eine andere Reform, die ultraorthodoxe Schulen verpflichtete, Kernfächer wie Mathematik und Englisch zu unterrichten. Zugleich wurde das Budget für Toraschulen auf jährlich umgerechnet 300 Millionen Euro erhöht – ein Rekord.
Nun arbeiten sie an einer weiteren Initiative mit dem Ziel, Supermärkten im überwiegend säkularen Tel Aviv die Öffnung an Samstagen zu verbieten.
Am Sonntag 25.Juni 17 sicherten die Haredim im Kabinett dem von ihnen kontrollierten Oberrabbinat das Monopol, Konversionen zum Judentum durchzuführen. Konvertiten anderer Rabbiner – auch einflussreicher Personen in den USA – werden fortan nicht mehr vom Staat anerkannt.
Dies steht nicht nur im Widerspruch zu einem Urteil des Höchsten Gerichtshofs, sondern ist auch ein Affront für die wohl berühmteste Konvertitin der USA – Präsidententochter Ivanka Trump, deren Status schon vor Monaten Anlass für Spannungen zwischen Washington und Jerusalem war.
Zeitgleich fasste das Kabinett den Beschluss, eine Abmachung mit Konservativen und Reformjuden für unbestimmte Zeit auf Eis zu legen, laut der es erstmals möglich gewesen wäre, an der Klagemauer nach jedem Ritus zu beten.
Der Jewish-Agency-Chef Natan Scharansky warnte vor den Folgen: „In Nordamerika treten jedes Wochenende Rabbiner in 3000 Synagogen an die Kanzel“, sagte er im Radio. Sie seien Garant für die enge Bindung der US-Juden zu Israel gewesen, und dafür, dass Juden in den USA sich für Israel einsetzen und die Beziehungen zu Israels wichtigstem Verbündeten festigen. Doch nun „werden wir Glück haben, wenn sie Israel schlicht nicht erwähnen. Fortan dürften sie auf unsere Regierung und unser Land nicht gut zu sprechen sein, sich nicht mehr für uns einbringen.“
In den USA gehört jeder zehnte Jude einer orthodoxen Synagoge an. Rund 35 Prozent sind Mitglieder einer Reformgemeinde, 18 Prozent konservativ, und sechs Prozent folgen einer anderen Richtung.
In Israel herrsche sogar in Regierungskreisen große Unkenntnis über die nichtorthodoxen Strömungen in den USA, so Scharansky. 85 Prozent der Unterstützer von AIPAC, einer der wichtigsten proisraelischen Lobbyorganisation in den USA, seien Anhänger der Reformbewegung oder der Masorti-Bewegung: »Als ich das der Regierung (in Jerusalem) vor ein oder zwei Jahren gesagt, war die Hälfte der Regierung schockiert. Die dachten wirklich, dass es um Unterstützer der Boykotte gegen Israel geht, verrückte Typen von J-Street, Breaking the Silence«, so der Chef der Jewish Agency.
Dennoch hat Scharansky sich in einem Interview mit der »Times of Israel« optimistisch gezeigt, dass die »Kotel-Krise«, der Streit um das gemeinsame Gebet von Männern und Frauen an der Westmauer in Jerusalem, bald gelöst werden kann. Er glaube, dass eine entsprechende Formel gefunden werden könne, sagte Scharansky in dem am Mittwoch veröffentlichen Gespräch.
Den ultraorthodoxen Vizeminister Jizchak Cohen störte das scheinbar nicht. „Das ist eine künstliche Krise“, sagte er im Radio. Schließlich glaubten die anderen „eh nicht an unseren Tempel“. Er forderte, die Jewish Agency und eine Reihe weiterer zionistischer Organisationen, welche die Verbindung zur Diaspora aufrechterhalten, zu schließen. Wer sich dann noch im Ausland für Israel einsetzen soll, sagte er indes nicht. mehr Informationen & mehr Informationen
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