Das große Thema Jesu ist das Reich Gottes. In Matthäus 9,35 heißt es: „Und Jesus zog umher durch alle Städte und Dörfer und lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium des Reiches und heilte jede Krankheit und jedes Gebrechen.“
Die letzte Frage der Jünger lautete: „Herr, stellst du in dieser Zeit für Israel das Reich wieder her?“ (Apostelgeschichte 1,6) Zu Pilatus sagte Jesus: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Johannes 18,36). Und dann lehrt uns Jesus zu beten: „Dein Reich komme“ (Matthäus 6,10).
Was ist das Reich Gottes und was stellen wir uns darunter vor?
Die Sehnsucht nach besonders begnadeten Persönlichkeiten, die uns von den Übeln dieser Welt erlösen und in ein „gelobtes Land“ oder ein „goldenes Zeitalter“ führen, ist ein uraltes Bedürfnis der Menschen.
Nach heutiger, jüdischer Vorstellung folgt auf die Umkehr des Volkes zu den religiösen Bräuchen, die Erlösung von den Feinden Israels und der Fremdbestimmung. So gibt es den Ausspruch: „Wenn ganz Israel einmal den Schabbat hält, dann kommt der Messias“. Damit das Friedensreich des Messias kommen kann, braucht es ihrer Vorstellung nach die Anstrengung der Juden und ihre Rückkehr zur Religiosität.
Wenn der Messias kommt, dann werden nach jüdischer Vorstellung alle Verbannten aus dem Exil zurückkehren, und Harmonie und Frieden werden sich ausbreiten. Nach einigen Propheten wird materieller Überfluss herrschen, der Boden wird fruchtbar, Kranke und Behinderte werden gesund und das menschliche Leben wird sich verlängern.
Das Ziel ist es, die Menschen in das verlorene Paradies zurückzubringen, wie es in Jesaja 11,6-9 beschrieben wird, Dann werden Wolf, Lamm, Löwe und andere Tiere friedlich mit den Menschen zusammenleben.
Jesus spricht von einem ganz anderen Reich Gottes. Deshalb kann Jesus nach rabbinischer Auffassung nicht der Messias sein, denn er hat kein irdisches Friedensreich errichtet.
Was ist wichtig für ein irdisches Reich?
Man braucht klare Ordnungen und die Möglichkeiten, sie durchzusetzen. Es braucht starke Persönlichkeiten und eine klare Hierarchie. Es muss klar sein, wer entscheidet. Das Eigentum muss geschützt werden und es braucht eine klare Rechtslage. Es muss auch geregelt sein, wie man Bürger wird. Die Rechte und Pflichten müssen bekannt sein.
Nun kommt Jesus und stellt alles auf den Kopf. In der Bergpredigt beschreibt er seine Vision. Gesegnet sind nicht die Starken, sondern die Menschen, die sich nach Gottes Hilfe sehnen. Jesus will aus Donnersöhnen Diener machen. Statt von einer Herrscherpyramide mit Vorgesetzten und ihren Kompetenzen spricht er vom Zudienen. Es ist das Bild eines Baumes. Wer mehr Verantwortung übernimmt, steigt ab und trägt die anderen. Er sucht die Nähe der Wurzel, von der die Kraft ausgeht. Reich Gottes bedeutet freiwilliger „Abstieg“ – freiwilliges Loslassen. Jesus hat es einmal so gesagt: „Wenn jemand der Erste sein will, der soll der Letzte sein von allen und aller Diener.“ (Markus 9,35). In diesem Reich regiert nicht das Schwert, sondern das Wort. Die Menschen werden werbend eingeladen, aber nicht gezwungen. Zu diesem Reich gehört man nicht von Geburt an, sondern man muss sich für diesen Lebensstil entscheiden. Jesus sagt zu Nikodemus in Johannes 3,3: „Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.“
Man kann es nicht einmal sehen. Um dies zu verdeutlichen, sagt Jesus zu Nikodemus: „Das Licht ist in die Welt gekommen, und die Menschen haben die Finsternis mehr geliebt als das Licht.“ (Johannes 3,19). In der Finsternis bleibt man, damit nicht offenbar wird, wie man ist. Aber Veränderung geschieht nur dann, wenn wir zugeben, dass wir Gottes Hilfe brauchen.
Im Reich Gottes geht es nicht darum, etwas darzustellen, sondern zuzugeben, dass wir alle Veränderung brauchen. Es gibt keine geistliche Elite, die zwischen Gott und uns vermitteln muss, sondern wir dienen einander, damit unser Vertrauen in Gott wächst und wir immer mehr werden wie der himmlische Vater. Gottes Gegenwart ist ein zentrales Thema. Gott mit uns – Immanuel. Jeder soll sich vom Geist Gottes prägen und verändern lassen.
Paulus sagt in Epheser 4,14-15: „Denn wir sollen nicht mehr Unmündige sein, hin- und hergeworfen und umhergetrieben von jedem Wind der Lehre durch die Betrügerei der Menschen, durch ihre Verschlagenheit zu listig ersonnenem Irrtum. 15 Lasst uns aber die Wahrheit reden in Liebe und in allem hinwachsen zu ihm, der das Haupt ist, Christus.“
Das Ziel der christlichen Gemeinschaft ist nicht der Aufbau einer Organisation, sondern eine organische Stärkung aller, die mit Gott leben wollen.
Die einzelnen Glieder des Leibes sind in Christus, dem Haupt, miteinander verbunden (Epheser 4,15). Jesus sagte es so: „Geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern“ (Matthäus 28,19). Ein Jünger ist ein Lernender. Wir sollen also bereit werden, von Jesus zu lernen und immer in der Haltung des Lernenden zu bleiben. Wir stehen im Dienst für Jesus in dieser Welt. Wir repräsentieren Gott in dieser Welt.
Teresa von Avila (1515–1582), eine spanische Mystikerin aus dem 16. Jahrhundert, drückte es wie folgt aus: „Christus hat keinen Körper außer deinem. Keine Hände, keine Füße auf der Erde außer deinen. Es sind deine Augen, mit denen er sieht – er leidet mit dieser Welt. Es sind deine Füße, mit denen er geht, um Gutes zu tun. Es sind deine Hände, mit denen er die Welt segnet.“
Sie hat es etwas überspitzt formuliert. Gott kann mit oder ohne uns handeln, aber er will durch uns handeln, damit wir selbst gesegnet werden.
Das Reich Gottes beginnt mit Jesus, dem König, und bekommt an Pfingsten eine neue Dynamik – aber die Jünger von Jesus hatten etwas anderes erwartet.
Bei der Himmelfahrt wollten sie wissen, ob Jesus jetzt Israel zu einem großen und mächtigen Reich machen wird (Apostelgeschichte 1,6). Jesus antwortet, dass alles seine Zeit hat.
Er verneint ein irdisches Reich nicht, aber zuerst kommt eine Zeit des Wartens auf den Heiligen Geist zwischen Himmelfahrt und Pfingsten, dann des Zeugens (eigentlich des Leidens) in aller Welt und dann die sichtbare Wiederkunft Jesu auf dieser Erde.
In Apostelgeschichte 1,8 sagt er: „Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde.“
Seine Herrschaft beginnt ausgerechnet dort, wo man sich gegen ihn entschieden hat (Jerusalem), geht dann weiter ins Umland (Judäa), bis zu den verachteten Samaritanern und bis in alle Welt.
Als Botschafter von Gottes Reich wird man nicht glorreich empfangen. Im Urtext von Apostelgeschichte 1,8 stehen für „Zeugen sein“ die Worte: „Ihr werdet meine Märtyrer sein“ (ἔσεσθέ μοι μάρτυρες). Offener Widerstand wird die Überbringer der guten Nachricht von der Versöhnung begleiten. Der Heilige Geist gibt uns die Kraft, diese Spannung auszuhalten.
Mit der Himmelfahrt hat Jesus seinen ersten Auftrag auf der Erde vollendet. Er ist leibhaftig an einen realen, jenseitigen Ort gegangen. Er hat versprochen, dort Wohnungen für seine Nachfolger vorzubereiten (Johannes 14,2). Jesus ist nicht in eine Geisterwelt entschwunden, sondern sitzt zur Rechten des himmlischen Vaters (Apostelgeschichte 7,56).
Die beiden Engel machen den Jüngern deutlich, dass sie nicht in der Vergangenheit verharren, sondern mit der Vision der kommenden Königsherrschaft Gottes leben sollen (Apostelgeschichte 1,11). „Eines Tages wird er genauso zurückkehren, wie ihr ihn gerade habt gehen sehen“.
Petrus zeigt in seiner zweiten Predigt auf, dass eine Zeit der Umkehr und des Segens begonnen hat, in der Gott uns durch seinen Geist aufrichtet, bis später die Zeit der Wiederherstellung kommen wird (Apostelgeschichte 3,19-21). „19 So tut nun Buße und bekehrt euch, dass eure Sünden ausgetilgt werden, 20 damit Zeiten der Erquickung kommen vom Angesicht des Herrn“ … 21 „bis zu den Zeiten der Wiederherstellung aller Dinge“. Das wird geschehen, wenn Jesus wiederkommt.
Wir befinden uns immer noch in dieser Zeit des Umkehrens. In der ganzen Apostelgeschichte finden wir an keiner Stelle die ideale Gemeinde. Es ist sogar spannend, dass Antiochia zur Schlüsselgemeinde wird und nicht Jerusalem.
Wir leben also mitten in einer Zeit, in der wir uns von der neuen Art des Umgangs im Reich Gottes prägen lassen. Wir leben aber nicht in einer heilen Subkultur. Wir sind keine Überflieger, sondern leben aus der Kraftquelle Gottes als seine „Märtyrer“, die an und in dieser Welt leiden und sich in ihr nicht zu Hause fühlen.
Das Reich Gottes beginnt nicht damit, dass wir eine heile Welt schaffen, sondern Heil in diese Welt hineintragen. Nicht gute Lebensbedingungen verändern die Menschen, sondern veränderte Menschen verbessern die Lebensbedingungen. Das Reich Gottes wirkt nicht von außen nach innen, sondern von innen nach außen.
Das Reich Gottes ist oft anders, als wir es erwarten. Deshalb liegen Enttäuschung und Segen oft so nahe beieinander. In der Bergpredigt entfaltet Jesus die Prinzipien des Reiches Gottes. Jesus eröffnet eine neue Perspektive auf Gottes Reich. Gott begegnet uns in unserer Not und hilft uns – aber manchmal ganz anders, als wir es erwarten.
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