Der jüdisch-polnische Kinderarzt, Pädagoge, Schriftsteller und Leiter des Warschauer Waisenhauses wurde vor 75 Jahren im KZ Treblinka ermordet, irgendwann nach dem 5. August 1942, auf den Tag genau weiß man das nicht. Korczak hatte seine Waisenkinder in die Gaskammer begleitet, obwohl er selbst mehr als einmal die Gelegenheit hatte, dem Tod zu entgehen. Obwohl er wusste, was ihn im KZ erwarten würde. Korczak stieg freiwillig in den Eisenbahnwagon nach Treblinka.
Korczak wollte „seine“ Kinder nicht alleine lassen. Der Komponist Władysław Szpilman hatte beobachtet, wie die Nazis Korczak und die Kinder aus dem Warschauer Ghetto abtransportieren. „Er wollte es ihnen leichter machen„, schreibt Szpilman. „Sie würden aufs Land fahren, erklärte er den Waisenkindern. Endlich könnten sie die Ghettomauern gegen Wiesen eintauschen, auf denen Blumen wüchsen, gegen Bäche, in denen man würde baden können, gegen Wälder, wo es so viele Beeren und Pilze gäbe. Er ordnete an, sich festtäglich zu kleiden, und so hübsch herausgeputzt, in fröhlicher Stimmung, traten sie paarweise auf dem Hof an.“
Korczaks Selbstlosigkeit bis in den Tod und sein Wunsch, die Kinder beim Abschied aus ihrem jungen Leben nicht alleine zu lassen – das macht sprachlos und stellt uns vor die Frage, wie wir an seiner Stelle gehandelt hätten.
Korczak, der als Henryk Goldszmit 1878 in eine Warschauer Anwaltsfamilie geboren wird, beginnt als Gymnasiast zu schreiben. Er studiert Medizin an der Kaiserlichen Universität in Warschau und Pädagogik an einer konspirativen „Fliegenden Universität“. Diese Hochschulen entstehen in Polen im 19. Jahrhundert und agieren im Untergrund. Kritische Studierende, Intellektuelle und Wissenschafter treffen sich zu Vorlesungen in Privaträumen und widmen sich Themen, die in der offiziellen Wissenschaft kaum vorkommen – beispielsweise einer Pädagogik, die nicht auf die Zurichtung von Kindern abzielt.
Bereits als Student streift Korczak durch die Elendsviertel Warschaus, behandelt arme Familien kostenlos. Was die Sozialmedizin heute längst weiß – dass die Lebensbedingungen eines Menschen seine Gesundheit beeinflussen –, Korczak erkennt das früh.
Nach Abschluss seiner Studien arbeitet Korczak sieben Jahre lang als Pädiater in einem kleinen jüdischen Kinderspital in Warschau und als unbezahlter Erzieher in Ferienlagern für unterernährte und kranke Kinder aus armen Familien.
1912 übernimmt er die Leitung des nach seinen Plänen erbauten und mit Spenden finanzierten jüdischen Waisenhauses Dom Sierot in der Warschauer Krochmalnastraße. Er führt das Heim als „Erziehungsklinik“ und verbindet die kinderärztliche Praxis mit pädagogischem Engagement.
In seinen Büchern und pädagogischen Abhandlungen reflektiert Korczak den Alltag mit den Kindern. Die Gesamtedition seines Werks wird später 15 Bände mit rund 8.000 Seiten umfassen.
Jedes Kind hatte ein eigenes Bett, was damals absolut keine Selbstverständlichkeit war. Im Heim gab es Elektrizität und fließendes Wasser. Das war Luxus zu jener Zeit.
Korczak ermutigt die Heimkinder zu kritischem Denken und zum Austragen von Konflikten; sie können ein Kinderparlament wählen und eine Wochenzeitung gestalten. All das in einer Zeit, in der das herrschende Erziehungsideal vielfach darin besteht, Kindern eigenständiges Denken und das Wahrnehmen ihrer Gefühle auszutreiben.
Als kein Zweifel mehr an den mörderischen Plänen der Deutschen besteht, als sie mit der Vernichtung der polnischen Juden und den Deportationen aus dem Warschauer Ghetto beginnen, lenkt Korczak die Kinder ab, beruhigte sie und wiegt sie in Sicherheit. An jenem Tag im August 1942, an dem er mit seinen rund 200 Zöglingen und seinen Mitarbeiterinnen nach Treblinka transportiert wird, „säubern“ die Deutschen das Ghetto von allen Waisenhäusern.
Korczak ist pädagogischer Revolutionär im Kontext seiner Zeit. Er tritt gegen Prügelstrafe und Rohrstock auf und erkennt in Kindern eigenständige Persönlichkeiten, denen Respekt durch die Erwachsenen zusteht. Er will Kinder nicht durch Erziehung formen, sondern mit ihnen in Dialog treten und ihnen helfen, ihre Potenziale zu entfalten – durch ein gedeihliches Umfeld und ernsthaftes Interesse an ihnen als Menschen.
Korczak hat einmal notiert: „Es ist einer der bösartigsten Fehler, anzunehmen, die Pädagogik sei die Wissenschaft vom Kind – und nicht zuerst die Wissenschaft vom Menschen.“
Korczak fragte, was das Kind im Hier und Jetzt brauche, um gut aufzuwachsen, und nicht, was das Kind brauche, damit einmal etwas aus ihm wird. Es ist aber auch ein Gegensatz zur Reformpädagogik, die eher die Zukunft des Kindes im Blick hatte und das Kind formen wollte.
Damit wäre Korczaks Zugang wohl auch heute – wieder – revolutionär. Geht es gegenwärtiger Erziehung und pädagogischer Förderung doch vielfach darum, Kinder möglichst gut auf eine „erfolgreiche“ Zukunft vorzubereiten. Korczak dagegen wollte „seinen“ Kindern Glück im Jetzt ermöglichen und schrieb: „Jedes Kind hat das Recht auf den heutigen Tag.“
In seinem Werk und in Briefen nach Israel gab er mehrfach an, dass er sich den Kindern bis zum Schluss verpflichtet fühlte. „Er wollte die Kinder nicht im Stich lassen.“ Sein bedingungsloser Humanismus, diese Liebe zum Menschen, reproduziert sich bis zuletzt. Er wünsche niemandem etwas Böses, schreibt Korczak einmal. „Ich kann das nicht. Ich weiß nicht, wie man das macht.“ mehr Informationen
Die Steine weinten… Über Leben und Tod des Janusz Korczak
Kurzfilm von Dieter Reifarth aus dem Jahr 1987 (ca. 15 Minuten)
Bild oben: „Korczak und die Kinder des Ghettos“ in Yad Vashem Jerusalem Israel
https://www.facebook.com/NewsnerDeutsch/videos/666415390195564/