Kürzlich versammelten sich etwa 200 Evolutionsbiologen aus aller Welt zu einem wissenschaftlichen Streitgespräch, das Geschichte schreiben könnte. Es ging um nichts weniger als die Frage, ob die neodarwinistische Theorie der Evolution ausreichend ist oder ob man nach neuen Antworten auf die Frage suchen muss, welche Mechanismen den Evolutionsprozess möglicherweise angetrieben haben.
Charles Darwin war einer der größten Biologen aller Zeiten, viele seiner Entdeckungen sind bis heute gültig. Er stellte die Hypothese auf, dass die vermutete Höherentwicklung der Lebewesen auf zwei Kernfaktoren reduziert werden könne: Variation und Selektion.
Der Neodarwinismus dominierte die Evolutionsbiologie über 60 Jahre lang und ist bis heute die in gymnasialen Biologielehrbüchern kaum hinterfragte Standardlehrmeinung. Zwar wurden von Fachleuten immer wieder Zweifel daran geäußert, ob der Neodarwinismus wirklich in der Lage sei, eine Höherentwicklung des Lebens zu erklären, doch dies wurde nicht beachtet, solange nur wenige Wissenschaftler substantielle Kritik an der herrschenden Theorie äußerten.
In den letzten Jahrzehnten wurde die Kritik am Neodarwinismus innerhalb der Evolutionsbiologie jedoch immer lauter. Schon vor Jahren begründeten einige Kritiker, warum der gradualistische Neodarwinismus Schwierigkeiten habe, eine Höherentwicklung (Makroevolution) zu erklären. Am 7. November 2016 war die Zeit dann reif: Die Royal Society organisierte den Streit zwischen den Lagern unter dem Thema „Neue Trends in der Evolutionsbiologie“.
Neu rückte der Organismus ins Zentrum. Damit nimmt man Abschied von einer Gen-zentrierten, reduktionistischen Biologie. Es könnte ja sein, dass die Fähigkeit zur Evolution eine fundamentale Eigenschaft des ganzen Organismus ist, von einem Schöpfer ausgestattet.
Die Kritiker meinen, dass der Neodarwinismus „dringend überdacht“ werden müsse, unter anderem um Höherentwicklung im Evolutionsprozess zu erklären. Die Neodarwinisten halten dagegen, dass die Kritiker eigentlich nichts grundsätzlich Neues vorzutragen hätten, mit der herrschenden Lehre sei „alles gut“. Es geht keineswegs nur um ein paar neue Evolutionsmechanismen, so interessant diese zweifellos sind. Die Vertreter der Erweiterten Evolutionstheorie sagen entsprechend: „Das ist kein Sturm im akademischen Wasserglas, es ist ein Kampf um den Kern der Evolutionsbiologie.“
In London stand die höchst brisante Frage unausgesprochen im Raum, ob am Ende beide Erklärungsversuche unzureichend sein könnten.
Nach 60 Jahren der massiven Dominanz des Neodarwinismus, der nicht selten weltanschauliche Züge angenommen hat und über Jahrzehnte als letzte, nicht hinterfragbare Wahrheit in unseren Schulen gelehrt wurde, spricht heute sehr vieles dafür, dass dieser Erklärungsansatz der Evolutionsbiologie den Evolutionsprozess auf jeden Fall sehr unzureichend beschreibt.
Die latente weltanschauliche Spannung wurde in einer unerwarteten Wendung der Diskussion in London deutlich. Im Vortrag hatte Andy Gardener die Beobachtung thematisiert, daß die Lebewesen Merkmale von Design tragen. Obwohl er keinen Zweifel daran ließ, dass er den Glauben an einen Designer vehement ablehnt, kam es zu engagierten Wortmeldungen, in denen gefordert wurde, auf gar keinen Fall von einem Design des Lebens zu sprechen. Nachdem Gardener darauf beharrte, dass die Designmerkmale des Lebens unübersehbar seien und dass man mit dieser Tatsache umgehen müsse, rief eine Teilnehmerin laut und unüberhörbar emotional in den Saal hinein: „Aber nicht Gott! Nicht Gott!“ Aber wer dann? mehr Informationen