Staatspräsident Erdogan rezitiert perfekt aus dem Koran. Das kommt an bei der religiös konservativen Mehrheit der türkischen Bevölkerung. Denn dass ein hochrangiger Politiker öffentlich als gläubiger Muslim auftritt, war lange Zeit in der Türkei ein Tabu.
Atatürk misstraute dem Einfluss, den die religiösen Führer im Land vor allem auf die Landbevölkerung haben. Und er wußte, dass die einflussreichsten Vertreter des Islams eine moderne demokratische Gesellschaft in der Türkei ablehnten. Deshalb schaffte er vollendete Tatsachen. Er gab dem Land eine Verfassung nach westlichem Vorbild. Er drängte den Einfluss der Religion auf die Politik zurück. Atatürk schaffte auch die arabischen Schriftzeichen ab und führte das lateinische Alphabet für die türkische Sprache ein.
Bis heute setzen deswegen viele Türken den Laizismus gleich mit Unglauben.
Bereits in seinen frühen Wahlkämpfen hat Erdogan sich gegen den Laizismus ausgesprochen: „Man kann nicht zugleich laizistisch und muslimisch sein. Entweder bist du ein Laizist, oder du bist ein Muslim.“ Wegen solcher Aussagen wurde Erdogan von Kemalisten oft kritisiert
Vor der Amtszeit Erdogans gab es in der Türkei kaum mehr als 400 Koranschulen. Heute sind es dreimal so viel. Viele religiös konservative Türken sehen heute in Erdogan eine religiöse Retter-Figur. Erdogan befreit die Religion aus ihrer Unterdrückung.
Die religiöse Rolle, die Erdogan zugesprochen wird, wird von ihm selbst verstärkt, indem er regelmäßig ein religiöses Gedicht vorträgt, das inzwischen zu seinem wichtigsten Slogan geworden ist:
„Sag bloß nicht Schicksal, es gibt ein Schicksal über dem Schicksal. Was auch immer geschieht, die Entscheidung steigt vom Himmel herab.“
Mit diesen Versen rührt Erdogan unzählige seiner Anhänger immer wieder zu Tränen. Denn sie assoziieren mit diesen Worten eine von Gott gewollte neue Türkei mit Recep Tayyip Erdogan an der Spitze. In diesen Zusammenhang stellen viele seiner Befürworter auch das geplante Präsidialsystem.
Auch der Leiter der islamischen Universität in Rotterdam, Professor Ahmet Akgündüz, spricht sich für dieses Präsidialsystem aus, weil es besonders gut zu einem islamischen Land passe: „Wer nach wie vor das Präsidialsystem mit Despotismus und dergleichen schlecht redet, sollte sich dessen bewusst sein, dass er damit unsere Geschichte und auch die Tatsachen unseres Glaubens verleugnet.“
In Syrien, Palästina und in islamischen Regionen in Afrika wird Erdogan bereits heute als neuer Anführer der islamischen Weltgemeinschaft gefeiert.
Muharrem İnce, Abgeordneter in der Nationalversammlung, kritisiert die religiösen Slogans Erdogan: „Wieso reden die aber von einer Entscheidung, die Gott getroffen hat. Zeigt mir doch mal diese Entscheidung. Hört euch nur diese Lüge an. Wie kann es so etwas geben? Macht etwa Gott Politik – oder was? Gott ist doch unser aller Gott. Wir sind seine Geschöpfe. Wir sind doch schließlich alle Muslime! … Die haben sie doch nicht mehr alle!“ mehr Informationen