Im Westjordanland werden Ehrenmorde als Teil der Kultur geduldet. Viele Palästinenser wollen das nicht mehr akzeptieren. Wer das Problem in der Öffentlichkeit thematisiert, begibt sich aber selbst in Gefahr.
Laut einer Studie der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch aus dem Jahr 2006 haben nur ein Prozent der palästinensischen Frauen Autos und nur 14 Prozent einen Arbeitsplatz – im Gegensatz zu 68 Prozent der Männer. Polygamie ist legal, Frauen können keine Scheidung fordern, bei einer Trennung geht das Sorgerecht automatisch an den Vater. Ein physischer Angriff auf eine Frau werde erst dann strafrechtlich verfolgt, wenn das Opfer länger als 20 Tage im Krankenhaus lag. War das Opfer weniger als 10 Tage auf Station, werde der Fall oft als irrelevant abgelehnt.
Nichts veranschaulicht die Unterlegenheit der Frau jedoch mehr als die Morde, die begangen werden, um die „Familienehre“ zu bewahren. Paragraph 340 des Strafgesetzbuches hält fest: „Wer seine Frau oder eine heiratsfähige Frau beim Ehebruch oder Betrug ertappt und sie ermordet, hat Anrecht auf mildernde Umstände.“ Paragraph 98 bestimmt, dass „denjenigen, die ihre Straftat in einem Zustand tiefer Empörung begehen, weil das Opfer sie beleidigt hat“, ebenfalls ein milderes Strafmaß zusteht. Selten sitzen Mörder, die sich darauf berufen, dass sie die Familienehre bewahren wollten, mehr als sechs Monate in Haft. Deswegen wird der Vorwand des Ehrenmords in unserer Gesellschaft oft missbraucht, um sich unbequemer Personen zu entledigen.
Offiziell kam es im ersten Halbjahr 2012 im Westjordanland zu 12 Ehrenmorden, doch es gibt eine „hohe Dunkelziffer“. Niemand wolle die Täter verfolgen. „Manchmal bringen sogar Mütter ihre eigenen Töchter um, weil sie die Familienehre bewahren wollen.“ „Polizisten sind Teil des Problems. Oft tragen sie die Morde einfach als Selbstmord ein, um nicht weiter ermitteln zu müssen.“ Die Untätigkeit der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) helfe so den „Ehrenmördern, weiter zu morden“, sagt die Journalistin Imtiyas Mughrabi.
Jussuf ad-Dais al Scheich sagt Ehrenmorde hätten „nichts mit islamischen Gesetzen zu tun. Sie sind ein alter Aberglaube, den unsere Religion verbietet. Deswegen predige ich auf meiner Kanzel dagegen“. Mit weißem Turban und in schwarzem Talar legt er dar, wie seiner Meinung nach mit untreuen Ehepartnern verfahren werden sollte: „Eine Frau, die ihren Mann betrügt, sollte ins Gefängnis. Der Islam schreibt vor, dass sie zu Tode gesteinigt werden sollte, wenn sie verheiratet ist, und wenn nicht, sollte sie 100 Peitschenhiebe erhalten, was vorzuziehen ist. Betrügt ein Mann eine Frau, muss er sie eigentlich heiraten.“ Aber das wäre ja eine Belohnung, sagt al Scheich mit einem Lächeln und setzt hinzu: „Er sollte auch ins Gefängnis.“ Jedenfalls gebühre beiden ein Prozess. Der Richter ist ein großer Befürworter der Todesstrafe: „Sie wurde uns von Gott befohlen. Er kennt uns besser als wir selbst und weiß, was gut für uns ist. Die Todesstrafe wird viele Probleme lösen.“ Wie das Problem der Ehrenmorde: „Es ist Unrecht, wenn Mörder wegen der Familienehre so leicht bestraft werden. Laut dem Koran muss der Mörder hingerichtet werden. Mit dem Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn herrschte in Palästina Stabilität und Sicherheit.“
Auch Rabiha Diab Hamdan ist überzeugt von der Todesstrafe. Hamdan, die schon viele Jahre in israelischen Gefängnissen verbracht hat, ist inzwischen Ministerin für Frauenfragen in der PA. „Wir haben schon viel erreicht. Wir sind weiter als viele arabische Staaten“, glaubt sie. Ein Viertel des Kabinetts in Ramallah ist weiblich. „Außerdem amtieren 43 Richterinnen, darunter die stellvertretende Generalstaatsanwältin und vier im Scharia-Gericht“, sagt Hamdan stolz. Laut Schätzungen der UN machen Frauen 30 Prozent der Beamten aus, im Jahr 2010 ernannte Präsident Mahmud Abbas die erste Gouverneurin. Und seit 2012 hat Bethlehem eine Bürgermeisterin.
Vor zwei Jahren legte Abbas’ Kabinett ein 44 Seiten langes Strategiepapier vor, die „Nationale Strategie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen“. Am 15. Mai 2011 veröffentlichte er ein Dekret, das die Artikel, die Strafen für Ehrenmörder mildern, aus dem Gesetzbuch entfernen soll. Es ist vorerst nur ein symbolischer Schritt: Um vom Dekret zum Gesetz zu werden, müsste das Parlament es verabschieden. Das Parlament tagte zum letzten Mal 2007. Neuwahlen sind nicht in Sicht. Dennoch zeigt das Dekret, dass sich die Haltung vieler Palästinenser ändert.
Doch viele Frauen teilen den Optimismus nicht. „Das ist kein arabischer Frühling, sondern ein islamischer Herbst, und die Muslimbrüder fahren die Ernte ein“, sagt Ministerin Hamdan. Auch die Journalistin Mughrabi zweifelt, ob Abbas an seiner frauenfreundlichen Politik festhalten kann: „Ich glaube kaum, dass es ihm gelingen wird, härtere Gesetze gegen Ehrenmord durchzusetzen“, sagt sie. „Die palästinensische Gesellschaft ist gegen einen solchen Wandel. Unsere Stämme sind zu stark, vor allem auf dem Land und in den Flüchtlingslagern. Sie wollen diese Probleme selbst lösen, ohne staatliche Einmischung.“