„Die Gläubigen sollen sich nicht die Ungläubigen anstatt der Gläubigen zu Freunden nehmen. […] Anders ist es, wenn ihr euch vor ihnen wirklich fürchtet.“ Sure 3 Vers 28
Der Koran verbietet in diesem Vers, Ungläubige anstelle von Gläubigen zu Freunden oder Alliierten zu erwählen. Dieselbe Botschaft findet sich in Sure 4 Vers 144: „Ihr Gläubigen! Nehmt euch nicht die Ungläubigen anstatt der Gläubigen zu Freunden! Wollt ihr (denn, indem ihr das tut) Allah offenkundige Vollmacht geben gegen euch (vorzugehen)?“
Beide Verse unterscheidet jedoch der Zusatz im eingangs zitierten Vers, wonach es eine Ausnahme gibt. Wenn die Gläubigen Furcht vor Ungläubigen haben und sich gegen sie verteidigen müssen, ist das Verbot aufgehoben.
Das Wort „taqiyya“ wurde früh zu einem theologischen Prinzip und erlangte die fachliche Bedeutung von „Vorsicht“ oder „Verheimlichung„. Demnach ist es Gläubigen bei Gefahr gestattet, ihren wahren Glauben zu verheimlichen. Manche sagen, sie dürften sich sogar verstellen und Unglaube vortäuschen. Die Grundlage für letztere Interpretation ist Vers 106 aus Sure 16. Er besagt:“Diejenigen, die nicht an Gott glauben, nachdem sie gläubig waren – außer wenn einer (äußerlich zum Unglauben) gezwungen wird […] – […] haben (dereinst) eine gewaltige Strafe zu erwarten.“
Es heißt häufig, dieser Koranabschnitt sei in Verbindung mit ʿAmmâr ibn Yâsir offenbart worden. Er war einer der ersten Anhänger des Propheten Mohammed und wurde von den mekkanischen Ungläubigen solange gefoltert, bis er sich von seinem Glauben lossagte. Als er Mohammed davon berichtete, ließ dieser laut Überlieferung ʿAmmârs Verhalten gelten und wies ihn an, künftig wieder so zu handeln, sollt er noch einmal in eine solche Situation geraten.
An anderer Stelle jedoch wird das Einwilligen in die Forderungen von Ungläubigen nur als Zugeständnis – arabisch: rukhṣa – anerkannt. Die Standhaftigkeit im Angesicht der Not wird dagegen als lobenswerteste Handlungsoption dargestellt. Ein solches Verhalten wird etwa ʿAmmârs Eltern zugeschrieben. Diese wurden umgebracht, weil sie es abgelehnt hatten, ihren Glauben preiszugeben.
Die Ausnahmeregelung in Sure 3 Vers 28 bezog sich vorrangig auf die ersten Jahre des Islams, als die kleine Gruppe von Mohammeds Anhängern, Ziel von Schikane und Verfolgung durch das ihnen feindlich gesinnte Umfeld gewesen ist.
Die Ausgangslage veränderte sich deutlich mit Mohammeds Siegen auf der arabischen Halbinsel und der raschen Expansion der Muslime nach seinem Tod. Die Wahrscheinlichkeit, dass Gläubige Verfolgung erfahren mussten, ging stark zurück. Innerhalb des sunnitischen Islams verlagerte sich die Frage nach einem angemessenen Verhalten in solchen Situationen somit weitgehend in den Bereich der theoretischen Rechtsdiskussionen.
Es gab allerdings Minderheitengruppen im Islam, für die Sure 3 Vers 28 ebenso wie Sure 16 Vers 106 eine unmittelbare Relevanz behielten. Das betraf insbesondere die Schiiten – die Anhänger des vierten Kalifen ʿAlî. Sie fanden sich unter zunehmendem Druck der ur-sunnitischen Mehrheit wieder.
Die Auseinandersetzung zwischen beiden Lagern gipfelte in der Schlacht von Kerbela im Jahr 680, bei der mehrere Mitglieder von Mohammeds Familie starben. Im Anschluss an die Schlacht nahm ein Teil der Schiiten – die späteren sogenannten Zwölferschiiten – eine quietistische Grundhaltung zur Obrigkeit an. Sie hielten „taqiyya“ als Hauptinstrument zum Schutz vor Gefahren aufrecht.
Mehrere Aspekte sind für die Auffassung von „taqiyya“ unter den Zwölferschiiten charakteristisch.
- Erstens, „taqiyya“ wurde zum Glaubensgrundsatz erhöht. Eine schiitische Tradition besagt: „Ein Gläubiger ohne ‚taqiyya‘ ist wie ein Körper ohne Kopf.“
- Zweitens,“taqiyya“ ist nicht nur gegenüber Ungläubigen auszuüben, sondern auch gegenüber nicht-schiitischen Muslimen.
- Drittens, sie wird ebenso benutzt, um das von den Imamen weitergegebene geheime Wissen – zum Beispiel über die wahre Bedeutung der Koranverse – vor Fremden zu verheimlichen.Nach Prof. em. Dr. Etan Kohlberg, Hebräische Universität Jerusalem mehr Informationen