Der verdorrte Feigenbaum

Die Bibel berichtet in Markus 11,12-26, wie Jesus bei einem Feigenbaum vergebens Früchte sucht. Darauf sagt Jesus, dass dieser Baum nie mehr Früchte tragen wird und der Baum verdorrt. Eine bizarre Geschichte. Was möchte Jesus uns damit sagen? Die Lösung liegt im Zusammenhang, in dem diese Geschichte in der Bibel steht.

In Vers 23 steht: „Wer zu diesem Berg sagen wird: Hebe dich empor und wirf dich ins Meer!, und nicht zweifeln wird in seinem Herzen, sondern glauben, dass geschieht, was er sagt, dem wird es werden.“

Ich habe schon viele Geschichten und Erlebnisberichte gelesen. Doch so etwas habe ich aus der zweitausendjährigen Kirchengeschichte noch nicht gehört.

In Vers 24 sagt Jesus: Alles, um was ihr auch betet und bittet, glaubt, dass ihr es empfangen habt, und es wird euch werden.“

Das tönt wie ein Blanko-Scheck. Wenn man nur genug glaubt, dann erhält man, um was man bittet. Meiner Erfahrung nach ist das auch nicht so.

Bei meiner theologischen Ausbildung sagte ein Lehrer: „Wenn etwas nicht funktioniert, dann ist unsere Interpretation falsch.“

Gebet heißt nicht, dass wir Gott sagen, wie er die Welt zu regieren hat. Gebet heißt, dass wir Gott unsere Not bringen und gespannt darauf warten, wie er handelt.

Manchmal bewahrt er uns im Sturm oder bringt den Sturm zum Erliegen. Ein anderes Mal lässt er uns weiter durch stürmische Zeiten gehen, damit wir ihn in diesen Zeiten auf besondere Weise sehen.

Es ist völlig unverständlich, warum Jesus zu einem Feigenbaum geht und Früchte an ihm sucht, obwohl es gar nicht die richtige Zeit zur Feigenernte war und den Baum dann auch noch verdorren lässt, weil er keine Früchte trägt. Was soll das?

Die Geschichte mit dem fruchtlosen Feigenbaum, den Jesus verdorren lässt, haben auch Matthäus (21,18-22) und Markus (11,12-26) aufgeschrieben. Beide ordnen das Ereignis in die Passionswoche ein.

Früh am Morgen bricht Jesus mit seinen Jüngern von Betanien auf, um in den Tempel zu gehen, der nur drei Kilometer entfernt in Jerusalem steht.

Die Aufmerksamkeit von Jesus wird auf einen üppigen grünen Feigenbaum gelenkt, der am Wegrand steht.

Nach 5. Mose 23,25 war es erlaubt, im Weinberg des Nachbarn Trauben zu essen, doch man durfte nichts mitnehmen. Ähnliches war auch für das Kornfeld vorgeschrieben (5. Mose 23,26). Bei uns heute ist das nicht erlaubt.

Obwohl die Zeit für reife Früchte noch nicht da ist, denn die ist erst Juni, hätte es bei einem fruchtbaren Feigenbaum schon im März Fruchtansätze geben müssen. Häufig zeigen sich die kleinen Früchteknospen schon bevor die Blätter sprießen. Oft reifen die letzten Feigen vom Vorjahr erst in den Frühlingsmonaten voll aus (Jesaja 28,4; Micha 7,1-2).

Ludwig Schneller, der vor über 100 Jahren in Israel Pastor war, sagte, diese Früchte seien wegen ihrer besonderen Süße sehr begehrt. Jesus konnte also durchaus reife Früchte erwarten. Doch wenn dieser Feigenbaum im März / April noch keinerlei Anzeichen von Jungfrüchten hatte, war er vollkommen fruchtlos.

Die Geschichte ergibt erst dann einen Sinn, wenn wir sie als zeichenhafte Handlung, als ein Gleichnis oder als ein Symbol von Jesus verstehen. Jesus wurde am Tag zuvor in Jerusalem als König der Juden empfangen.

Der Schlüssel zu diesem Text liegt in Vers 25: „damit auch euer Vater, der in den Himmeln ist, euch eure Übertretungen vergibt.“

Gott möchte uns unsere Schuld vergeben und sucht nach Menschen, die sich danach sehnen.

So steht in Micha 7,19: „Er wird sich unser wieder erbarmen, er wird niedertreten unsere Schuld. Ja, du wirst in die Tiefen des Meeres werfen alle ihre Sünden.“

Und in Esra 9,6 heißt es: „Mein Gott, ich schäme mich und wage nicht, die Augen zu dir, mein Gott, zu erheben. Denn unsere Vergehen sind uns über den Kopf gewachsen; unsere Schuld reicht bis zum Himmel.“

Wenn also unsere Schuld wie die Berge bis zum Himmel reicht, dann möchte Gott sie in den Tiefen des Meeres versenken.

Spannend ist, was dann in Micha 7,1-2 1 steht: „1 Wehe mir! … keine Frühfeige, die meine Seele begehrt! 2 Verloren gegangen ist der Getreue aus dem Land, und da ist kein Rechtschaffener unter den Menschen: Sie alle lauern auf Bluttaten, sie jagen jeder seinen Bruder mit dem Netz.“

Die Frühfeige ist ein Bild für den Glaubenden, wie wir auch in Hosea 9,10 lesen: „Israel, wie eine Frühfrucht am Feigenbaum, als seinen ersten Trieb sah ich eure Väter.

Jesus sucht in Israel die Frucht des Glaubens, den die Urväter hatten und er findet diese nicht.

In Joel 1,7 steht: „Sie (Babylon) hat … meinen Feigenbaum zerknickt; sie hat ihn völlig abgeschält und hingeworfen, seine Ranken sind weiß geworden. … 9 Speisopfer und Trankopfer sind weggenommen vom Haus des HERRN; es trauern die Priester, die Diener des HERRN.“

Hier in dieser Geschichte steht Jesus neben dem Feigenbaum. Vor ihm liegt der golden leuchtende Tempel in der Morgensonne.

Jesus erwartet, dass der Tempel und die Offenbarungen Gottes die Juden und die ganze Welt in die Anbetung Gottes führen. Doch der Tempel führt die Menschen nicht zum Glauben an Gott.

Aus dem Haus des Gebets wurde ein Business (ein Geschäft) gemacht. Deshalb wird der Tempel vergehen. Gott geht einen neuen Weg. So sagt Jesus in Vers 22: Habt Glauben an Gott!

Vor ein paar Tagen hat Jesus gesagt, er wolle Jerusalem sammeln wie eine Henne ihre Küken, doch sie haben nicht gewollt (Matthäus 23,37).

Das Judentum mit dem Tempel ist im Jahr 70 vergangen. Es sind nicht mehr rituelle Handlungen, die uns vor Gott heiligen, sondern der Glaube daran, dass Gott die Berge der Schuld im tiefsten Meer versenkt.

Wir müssen den Text also vom letzten Vers her aufschlüsseln. Es geht hier um die Schuld der Menschen. Sünden sind nicht einfach nur schlechte Taten. Das Wort „Sünde“ kommt aus der Bogensprache und bedeutet „Zielverfehlung“. Wenn wir nicht das sind, wozu uns Gott geschaffen hat oder wenn wir nicht sein wollen, wozu uns Gott geschaffen hat, dann leben wir in Sünde.

Eine neue Art von Glauben ist also angesagt. Wir müssen Gott neu vertrauen. Er versenkt den Berg der Schuld ins tiefste Meer, wenn wir nicht daran zweifeln, dass Jesus für uns am Kreuz bezahlt hat.

Die Botschaft heißt also: „Glaubt und vertraut darauf, dass ihr die Vergebung schon bekommen habt, und Gott wird sie euch geben.“ Wir leben mit Gott, weil uns vergeben wurde und nicht, damit uns vergeben wird.

Die Bedingung dafür ist, dass auch wir bereit sind, anderen zu vergeben, damit aus dem Kreislauf der Rache auszusteigen und die Gerechtigkeit Gott zu überlassen.

In Vers 24 geht es also nicht darum, dass wir Gott sagen können, was er zu tun hat, sondern um die Bitte um Vergebung unserer Zielverfehlung. Denn im nachfolgenden Vers geht es um Vergebung: „25-26 wenn ihr … betet, so vergebt, … damit auch euer Vater, … euch eure Übertretungen vergibt.“

Gott sucht bei uns nicht Religiosität, sondern einen Glauben, der uns verändert. Einen Glauben, bei dem wir bereit sind, anderen zu vergeben.

Im Tempel hat Jesus nur Religiosität angetroffen. Jesus zitiert Jesaja 56,7: „Mein Haus wird ein Bethaus genannt werden für alle Nationen.Doch die Realität ist: „Ihr aber habt es zu einer »Räuberhöhle« gemacht.“

Gott sucht Glauben. Den Glauben, dass er unsere Sünden wegnimmt und wir durch den Heiligen Geist verändert werden.

Jesus sagt mit dem Feigenbaum voraus, dass der Tempeldienst untergehen wird, weil er im Tempel nicht die Früchte findet, die er sucht.

Was er sucht, ist nicht ein Handel mit der Vergebung und Schuld, sondern ein Glaube, ein Vertrauen in Gott, dass durch den Kreuzestod des Messias alle Schuld in die Tiefen des Meeres versenkt ist.

In Matthäus 24,32 nimmt Jesus das Bild des Feigenbaumes wieder auf:
„Von dem Feigenbaum aber lernt das Gleichnis: Wenn sein Zweig schon weich geworden ist und die Blätter hervortreibt, so erkennt ihr, dass der Sommer nahe ist.“

In Jeremia 24 steht: „1 Der HERR ließ mich sehen – und siehe, zwei Körbe Feigen waren vor dem Tempel des HERRN aufgestellt … 2 Der eine Korb enthielt sehr gute Feigen wie die Frühfeigen und der andere Korb sehr schlechte Feigen, … 5 Wie diese guten Feigen, so sehe ich die Weggeführten von Juda zum Guten an, … 7 Und ich gebe ihnen ein Herz, mich zu erkennen, dass ich der HERR bin. Und sie werden mein Volk sein, und ich werde ihr Gott sein; denn sie werden mit ihrem ganzen Herzen zu mir umkehren.“

Jesus weiß, dass sich das jüdische Volk wieder neu Gott zuwenden wird, bevor sein Reich offenbar wird.

Wenn Gott wieder jüdische Menschen findet, die ihn erkennen und zu ihm umkehren, ist das das Zeichen, dass Jesus nahe ist.

Gott sucht nicht Religiosität, sondern einen Glauben, der uns verändert, so dass wir vergeben, weil uns vergeben wurde und unsere Schuldenberge im Meer versenkt wurden.

Donnerstag 11. Februar 2021, 14 Uhr, Leben mit der Bibel, Radio Maria Schweiz

Die Sendung kann auch auf dem Podcast von Radio Maria Schweiz gehört werden: Link zu den Sendungen im Radio Maria  https://www.radiomaria.ch/de/podcasts?combine=Hanspeter+Obrist

Markus 11,12-26, Elberfelder Bibel

12 Und als sie am folgenden Tag von Betanien weggegangen waren, hungerte ihn. 13 Und er sah von Weitem einen Feigenbaum, der Blätter hatte, und er ging hin, ob er wohl etwas an ihm fände; und als er zu ihm kam, fand er nichts als Blätter, denn es war nicht die Zeit der Feigen. 14 Und er begann und sprach zu ihm: Nie mehr in Ewigkeit soll jemand Frucht von dir essen! Und seine Jünger hörten es.

15 Und sie kommen nach Jerusalem. Und er trat in den Tempel und begann die hinauszutreiben, die im Tempel verkauften und kauften; und die Tische der Wechsler und die Sitze der Taubenverkäufer stieß er um. 16 Und er erlaubte nicht, dass jemand ein Gerät durch den Tempel trug. 17 Und er lehrte und sprach zu ihnen: Steht nicht geschrieben: »Mein Haus wird ein Bethaus genannt werden für alle Nationen«? [Jesaja 56,7] Ihr aber habt es zu einer »Räuberhöhle« gemacht. 18 Und die Hohen Priester und die Schriftgelehrten hörten es und suchten, wie sie ihn umbringen könnten; sie fürchteten ihn nämlich, denn die ganze Volksmenge geriet außer sich über seine Lehre. 19 Und wenn es Abend wurde, gingen sie zur Stadt hinaus.

20 Und als sie frühmorgens vorbeigingen, sahen sie den Feigenbaum verdorrt von den Wurzeln an. 21 Und Petrus erinnerte sich und spricht zu ihm: Rabbi, siehe, der Feigenbaum, den du verflucht hast, ist verdorrt. 22 Und Jesus antwortete und spricht zu ihnen: Habt Glauben an Gott! 23 Wahrlich, ich sage euch: Wer zu diesem Berg sagen wird: Hebe dich empor und wirf dich ins Meer!, und nicht zweifeln wird in seinem Herzen, sondern glauben, dass geschieht, was er sagt, dem wird es werden. 24 Darum sage ich euch: Alles, um was ihr auch betet und bittet, glaubt, dass ihr es empfangen habt, und es wird euch werden. 25-26 Und wenn ihr steht und betet, so vergebt, wenn ihr etwas gegen jemand habt, damit auch euer Vater, der in den Himmeln ist, euch eure Übertretungen vergibt.

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