Der Umgang mit dem Gesetz

Jesus predigt vom Reich Gottes. Für Juden stellt sich sofort die Frage, wie Jesus die Gebote der Torah interpretiert.

Elyah Havemann schreibt in seinem Buch „Wie werde ich Jude“: Juden leben „mit Gesetzen, nicht nach Gesetzen“.

Er erläutert dies am Beispiel eines Rasens, auf dem ein Schild steht: „Rasen betreten verboten“. Nach europäischer Leseart versteht man darunter, dass sich niemand auf dem Rasen aufhalten soll. Nach der jüdischen interpretationsorientierten Leseart kann man dies ganz unterschiedlich verstehen.

Er beschreibt die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten so (Seite 48): „Betreten ist jedoch etwas, das man mit den Füßen tut. Robben, Krabbeln, auf Händen laufen, Fahrrad fahren, eine Decke darauf legen, Sitzen und Liegen fallen also nicht unter dieses Verbot. Rasen sind Grashalme ab einer gewissen Dichte und Reinheit, … (gewisse) Stellen … sind aus dem Verbot ausgeschlossen und dürfen betreten werden. … Betreten kommt von „treten“, dafür braucht man Treter, also Schuhe. Darum ist der Rasen ohne Schuhe begehbar.“

Diese Art der Argumentation finden wir in Matthäus 15,5-6. Jesus kritisiert, dass die Schriftgelehrten sagen, man könne das Geld, das eigentlich für die Eltern bestimmt ist, dem Tempel spenden und müsse dann seine Eltern nicht unterstützen.

Als der Tempel zerstört wurde und das jüdische Volk ins Exil nach Babylon kam, verlangte der fehlende Tempel nach neuen Formen der Glaubensausübung. So entstanden rabbinische Schulen, die die Torah (5 Bücher Mose) neu auslegten. Zur Zeit von Jesu waren fünf Auslegungsarten bekannt: Die Pharisäer, die Sadduzäer, die Essener, die Zeloten und die Samaritaner.

Die Pharisäer erwarteten Gottes Eingreifen, sobald sie gottgefällig lebten. Die Sadduzäer waren liberal und rechneten nicht mit einer geistlichen Welt oder einem Leben nach dem Tod. Die Essener sonderten sich ab und sahen sich selbst als Gottes Tempel an. Die Zeloten glaubten an eine Umsetzung von Gottes Reich durch eigenes Handeln und Waffengewalt. Die Samaritaner beschränkten sich auf die 5 Bücher von Mose und warteten auf den verheißenen Propheten wie Mose (5.Mose 18,18-19).

Nach dem Babylonischen Talmud steht die rabbinische Autorität über der Torah. So heißt es im Talmud: „Die Torah ist bereits vom Berge Sinaj her verliehen worden. Wir achten nicht auf die Hallstimme (Himmelsstimme), denn bereits hast du am Berge Sinaj in die Torah geschrieben: Nach der Mehrheit zu entscheiden“ (Babylonischer Talmud Band 7 S. 637). Nach jüdischem Verständnis ordnet sich Gott der Entscheidung des jüdischen Rates unter. In diesem Sinne könnte man den Text in 5. Mose 17,8-12 interpretieren. Dort geht es aber um Dinge, die im Gesetz nicht geregelt sind. Eine andere Version ist, dass man die Regel, dass der Hohe Rat den Jahresanfang nach der Weizenernte bestimmt, so interpretieren könnte, dass Gott sich an die Entscheidung der Menschen hält.

Es stellt sich also die Frage: Wie interpretiert Jesus die Torah und die Propheten?

In Matthäus 5,17-20 sagt Jesus: „17 Meint nicht, dass ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.
18 Denn wahrlich, ich sage euch: Bis der Himmel und die Erde vergehen, soll auch nicht ein Jota oder ein Strichlein von dem Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist.
19 Wer nun eins dieser geringsten Gebote auflöst und so die Menschen lehrt, wird der Geringste heißen im Reich der Himmel; wer sie aber tut und lehrt, dieser wird groß heißen im Reich der Himmel.
20 Denn ich sage euch: Wenn nicht eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer weit übertrifft, so werdet ihr keinesfalls in das Reich der Himmel hineinkommen.“

Jesus legt das Gesetz in seinem ursprünglichen Sinn aus. Damit steht er teilweise im Widerspruch zu seinem Umfeld.

Was die Schrift voraussagt, muss sich erfüllen. Jesus erfüllt das Gesetz in einem Sinn, den auch seine Jünger zunächst nicht verstehen. Nach seinem Tod und seiner Auferstehung erklärte er den Jüngern auf dem Weg nach Emmaus, dass nach der Schrift der Messias den Tod erleiden musste. Er begann mit der Torah (den 5 Büchern Mose) und allen Propheten und erklärte, was in den Schriften über ihn gesagt wurde (Lukas 24,26-27).

Jesus erfüllte alle Gesetze und Prophezeiungen über die Versöhnung mit Gott. Johannes der Täufer sagt in Johannes 1,29: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“

Wir haben also eine neue Perspektive auf das Gesetz. Es ist nicht Vorbedingung für eine Beziehung zu Gott, sondern Spiegel und Leitlinie. Gott reicht uns in Jesus die Hand. Wenn wir sie ergreifen, nimmt er alles weg, was die Beziehung hindert. Er schenkt uns ewiges Leben und befreit uns, wie ein Schmetterling, zu einem neuen Leben mit Gott.

Alle ethischen Gebote, die den zwischenmenschlichen Umgang regeln, behalten ihren Sinn. Jesus will uns den tiefsten Leitgedanken aufzeigen.

Jesus macht das an einem Beispiel deutlich (Matthäus 5,21-26): 21 Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht töten; wer aber töten wird, der wird dem Gericht verfallen sein. 22 Ich aber sage euch, dass jeder, der seinem Bruder (ohne Grund) zürnt, dem Gericht verfallen sein wird; wer aber zu seinem Bruder sagt: Raka!, dem Hohen Rat verfallen sein wird; wer aber sagt: Du Narr!, der Hölle des Feuers verfallen sein wird.

23 Wenn du nun deine Gabe darbringst zu dem Altar und dich dort erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, 24 so lass deine Gabe dort vor dem Altar und geh vorher hin, versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und bring deine Gabe dar!

25 Komm deinem Gegner schnell entgegen, während du mit ihm auf dem Weg bist! Damit nicht etwa der Gegner dich dem Richter überliefert und der Richter dem Diener und du ins Gefängnis geworfen wirst.26 Wahrlich, ich sage dir: Du wirst nicht von dort herauskommen, bis du auch die letzte Münze bezahlt hast.

Man kann auch mit Worten töten, indem man den anderen unterdrückt und einschränkt. Wer offen erklärt, seinem Bruder zu zürnen oder ihn mit dem jüdischen Bann Raka (Dummkopf) oder Narr (Verrückter, Gottloser) belegt, der zerstört Leben.

Auch Unversöhnlichkeit zerstört Leben. Oder wenn man Schuld ignoriert und der andere nur über das Gericht zu seinem Recht kommt.

Wenn ein Lehrer zur Zeit Jesu über einen Jünger zornig wurde, belegte er ihn mit dem Bann Nasaf. Sieben Tage lang musste er zuhause bleiben und durfte andere Menschen nicht mit Schalom begrüßen. Jesus sagte: Wer das grundlos tat, soll sich vor dem Gericht verantworten.

Der Bann Raka dauerte dreißig Tage. Das war dann ein Fall für den Sanhedrin (Hohen Rat).

Wer jemanden als Gottlosen bezeichnet, ihn aus der Gemeinschaft der Glaubenden ausgrenzt und ihn seiner Umkehrmöglichkeit beraubt, wird nach Jesus selbst zu den Gottlosen gerechnet.

Töten kann man also auch durch Hetzen, Rufmord, Schweigen, Ausweichen, indem man dem anderen sein Recht verweigert oder indem man sich nicht versöhnen will.

Jakobus sagt sogar (4,17): „Wer nun weiß, Gutes zu tun, und tut’s nicht, dem ist’s Sünde.“

Das Gegenteil vom Töten ist nicht, den anderen nur leben zu lassen, sondern ihn zu fördern.

Jesus zeigt uns hier auf, dass wir alle in irgendeiner Form getötet haben. Wir alle brauchen Vergebung und Veränderung durch den Heiligen Geist.

So sagt Jesus später: Matthäus 7,8 „Jeder Bittende empfängt, und der Suchende findet, und dem Anklopfenden wird geöffnet werden.“ Es ist die Bitte aus Matthäus 6,12: „vergib uns unsere Schulden“ und „erlöse uns von dem Bösen“ (Matthäus 6,13). Die entscheidende Frage ist nach Matthäus 7,23, ob Jesus uns kennt – wir also im Gespräch mit Jesus sind.

Hier erscheint auch geenna (γέεννα), eines der drei Wörter, welche im Deutschen oft mit Hölle übersetzt werden. Die anderen sind Hades (Lukas 16,23 – das Totenreich) und Tartarus (2. Petrus 2,4 – tiefer Abgrund).

Gehenna ist eine griechische Version des hebräischen „Ge-Hinnom“. Es ist das Tal südwestlich von Jerusalem. Als Ort des Todeskultes wurde es zum Symbol für das Gericht über die Gottlosen und ihre Vernichtung. Das Hinnomtal wurde zur Müllhalde Jerusalems, welche ständig vor sich hin moderte.

Jesus sagt: „Wenn nicht eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer weit übertrifft, so werdet ihr keinesfalls in das Reich der Himmel hineinkommen“.

Die Schriftgelehrten und Pharisäer meinten, sie brauchen keine Erlösung, weil sie mit den Gesetzen lebten.

Jesus schafft das Gesetz nicht ab, sondern er weist auf seinen tiefsten Sinn hin. Wir sollen Leben nicht einschränken, sondern fördern.

Unsere Gerechtigkeit entsteht, wenn wir unsere Erlösungsbedürftigkeit erkennen, die Vergebung in Jesus annehmen und uns durch den Heiligen Geist verändern lassen.

Jesus will uns zum ursprünglichen Sinn der Gebote führen. In Hesekiel 20,11 heißt es: „Ich gab ihnen meine Ordnungen, und meine Rechtsbestimmungen ließ ich sie wissen, durch die der Mensch, wenn er sie tut, lebt.“

Wir sind – wie ein Schmetterling – zu einem neuen Leben befreit. Gottes Leitlinien bewahren uns vor Schwierigkeiten und führen uns zu einem erfüllten Leben mit Jesus. Wie ein Schmetterling mit neuen Augen sieht, sehen wir wieder den ursprünglichen Sinn von Gottes Anweisungen.

Siehe auch Beitrag: Das Kreuz

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