Der Feigenbaum ohne Früchte

Die Bibel berichtet in Markus 11,12-26, wie Jesus an einem Feigenbaum vergeblich nach Früchten sucht. Daraufhin sagt Jesus, dass dieser Baum nie wieder Früchte tragen wird und verdorrt. Eine bizarre Geschichte. Was will Jesus damit sagen? Die Antwort liegt im Kontext der Geschichte.

12 Und als sie am folgenden Tag von Betanien weggegangen waren, hungerte ihn. 13 Und er sah von Weitem einen Feigenbaum, der Blätter hatte, und er ging hin, ob er wohl etwas an ihm fände; und als er zu ihm kam, fand er nichts als Blätter, denn es war nicht die Zeit der Feigen. 14 Und er begann und sprach zu ihm: Nie mehr in Ewigkeit soll jemand Frucht von dir essen! Und seine Jünger hörten es.

15 Und sie kommen nach Jerusalem. Und er trat in den Tempel und begann die hinauszutreiben, die im Tempel verkauften und kauften; und die Tische der Wechsler und die Sitze der Taubenverkäufer stieß er um. 16 Und er erlaubte nicht, dass jemand ein Gerät durch den Tempel trug. 17 Und er lehrte und sprach zu ihnen: Steht nicht geschrieben: »Mein Haus wird ein Bethaus genannt werden für alle Nationen«? [Jesaja 56,7] Ihr aber habt es zu einer »Räuberhöhle« gemacht. 18 Und die Hohen Priester und die Schriftgelehrten hörten es und suchten, wie sie ihn umbringen könnten; sie fürchteten ihn nämlich, denn die ganze Volksmenge geriet außer sich über seine Lehre. 19 Und wenn es Abend wurde, gingen sie zur Stadt hinaus.

20 Und als sie frühmorgens vorbeigingen, sahen sie den Feigenbaum verdorrt von den Wurzeln an. 21 Und Petrus erinnerte sich und spricht zu ihm: Rabbi, siehe, der Feigenbaum, den du verflucht hast, ist verdorrt. 22 Und Jesus antwortete und spricht zu ihnen: Habt Glauben an Gott! 23 Wahrlich, ich sage euch: Wer zu diesem Berg sagen wird: Hebe dich empor und wirf dich ins Meer!, und nicht zweifeln wird in seinem Herzen, sondern glauben, dass geschieht, was er sagt, dem wird es werden. 24 Darum sage ich euch: Alles, um was ihr auch betet und bittet, glaubt, dass ihr es empfangen habt, und es wird euch werden. 25-26 Und wenn ihr steht und betet, so vergebt, wenn ihr etwas gegen jemand habt, damit auch euer Vater, der in den Himmeln ist, euch eure Übertretungen vergibt.

Ein spannender, aber auch ein verwirrender Text. Zum Beispiel Vers 23 „Wer zu diesem Berg sagen wird: Hebe dich empor und wirf dich ins Meer!, und nicht zweifeln wird in seinem Herzen, sondern glauben, dass geschieht, was er sagt, dem wird es werden.“

Habt ihr schon je gehört, dass in zweitausend Jahren Kirchengeschichte ein Berg ins Meer gefallen ist?

Oder Vers 24: Alles, um was ihr auch betet und bittet, glaubt, dass ihr es empfangen habt, und es wird euch werden.“ Das tönt wie ein Blanko-Scheck.

Man könnte meinen, dass wenn man genug glaubt, man bekommen wird, worum man bittet. Das ist nicht meine Erfahrung.

In meiner theologischen Ausbildung sagte ein Lehrer, wenn etwas nicht so geht, wie wir es uns vorstellen, dann ist unsere Interpretation falsch.

Gebet ist nicht, Gott zu sagen, wie er die Welt regieren soll. Gebet ist, Gott unsere Herzensanliegen zu sagen und gespannt zu warten, wie er handelt.

Manchmal beruhigt er den Sturm. Ein anderes Mal lässt er uns weiter durch stürmische Zeiten gehen, damit wir sehen und erfahren, wie er uns hält.

Es ist völlig unverständlich, warum Jesus zum Feigenbaum geht, an ihm nach Früchten sucht, obwohl es gar nicht die Zeit dafür ist, und ihn dann noch verdorren lässt, weil er keine Früchte trägt. Was soll das?

Versetzen wir uns in die Geschichte: Früh am Morgen macht sich Jesus mit seinen Jüngern von Betanien auf den Weg zum Tempel, der nur drei Kilometer entfernt in Jerusalem steht. Jesus sieht den üppig grünen Feigenbaum am Wegrand.

Nach 5.Mose 23,25 durfte man Trauben vom Weinberg des Nachbarn essen, aber nichts mitnehmen. Ähnliches galt auch für das Kornfeld (5.Mose 23,26).

Obwohl die Zeit für reife Früchte noch nicht gekommen war (erst etwa im Juni), sollten an einem fruchtbaren Feigenbaum schon im März Fruchtansätze sichtbar sein. Häufig erscheinen die kleinen Fruchtknospen noch vor dem Blattaustrieb. Die Spätfeigen des Vorjahres reifen sogar in Israel oft erst im Frühjahr voll aus (Jesaja 28,4; Micha 7,1-2).

Ludwig Schneller, der vor über 100 Jahren in Israel lebte, schrieb, dass diese Früchte wegen ihrer besonderen Süße sehr begehrt waren. Jesus konnte also mit reifen Früchten rechnen. Aber wenn dieser Feigenbaum im März/April noch keine Anzeichen von jungen Früchten zeigte, dann war er fruchtlos.

Die Geschichte ergibt erst dann einen Sinn, wenn wir sie als zeichenhafte Handlung (Gleichnis / Symbol) von Jesus verstehen. Am Tag zuvor wurde Jesus als König der Juden empfangen. In wenigen Tagen wird er für die Zielverfehlungen der Menschen am Kreuz sterben und wieder auferstehen.

Der Schlüssel zu diesem Text liegt im Vers 25: „Damit auch euer Vater, der in den Himmeln ist, euch eure Übertretungen vergibt.“

Gott möchte alles aus dem Weg räumen, was zwischen uns und ihm steht. Er sucht nach Menschen, die sich danach sehnen.

So heißt es in Micha 7,19: „Er wird sich unser wieder erbarmen, er wird niedertreten unsere Schuld. Ja, du wirst in die Tiefen des Meeres werfen alle ihre Sünden.“

Und in Esra 9,6: „Mein Gott, ich schäme mich und wage nicht, die Augen zu dir, mein Gott, zu erheben. Denn unsere Vergehen sind uns über den Kopf gewachsen; unsere Schuld reicht bis zum Himmel.“

Also wenn unsere Schuld wie Berge bis zum Himmel reichen, dann möchte sie Gott in den Tiefen des Meeres versenken.

Es geht um alles, was zwischen Gott und uns steht und uns daran hindert, seine Hilfe in Anspruch zu nehmen, um das, was wir falsch gemacht haben, anzugehen und in Ordnung zu bringen. Ich kann also nicht etwas stehlen, dann beten und alles ist in Ordnung.

Spannend ist, was dann in Micha 7,1-2 steht: „Wehe mir! … keine Frühfeige, die meine Seele begehrt! 2 Verloren gegangen ist der Getreue aus dem Land, und da ist kein Rechtschaffener unter den Menschen: Sie alle lauern auf Bluttaten, sie jagen jeder seinen Bruder mit dem Netz.

Die Frühfeige ist auch ein Bild für den Glaubenden in Hosea 9,10: „Israel, wie eine Frühfrucht am Feigenbaum, als seinen ersten Trieb sah ich eure Väter.

Jesus sucht in Israel die Frucht des Glaubens, den die Urväter hatten und er findet sie nicht.

In Joel 1,7 heißt es: „Sie (Babylon) hat … meinen Feigenbaum zerknickt; sie hat ihn völlig abgeschält und hingeworfen, seine Ranken sind weiß geworden. … 9 Speisopfer und Trankopfer sind weggenommen vom Haus des HERRN; es trauern die Priester, die Diener des HERRN.“

In dieser Geschichte steht Jesus neben dem Feigenbaum. Vor ihm ist der golden leuchtende Tempel in der Morgensonne. Jesus erwartet, dass der Tempel und die Offenbarungen Gottes die Juden und die ganze Welt zur Anbetung Gottes führen.

Aber der Tempel führt die Menschen nicht zum Glauben an Gott. Aus dem Haus des Gebets wurde ein Business (Geschäft) gemacht. Deshalb wird der Tempel vergehen. Gott geht einen neuen Weg. So sagt Jesus in Vers 22: Habt Glauben an Gott!

Einige Tage zuvor sagte Jesus: „Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt!“ (Matthäus 23,37).

Im Jahr 70 wurde der Tempel zerstört. Es sind nicht mehr rituelle Handlungen, die uns vor Gott heiligen, es ist der Glaube, dass Gott die Berge der Schuld im tiefsten Meer versenkt.

Wir müssen den Text vom letzten Vers her aufschlüsseln. Hier geht es um die Schuld. Sünden sind nicht einfach schlechte Taten. Sünde kommt aus der Bogensprache und bedeutet Zielverfehlung. Das ist, wenn wir nicht sind, wozu uns Gott geschaffen hat, oder wenn wir nicht sein wollen, wozu uns Gott geschaffen hat.

Wir brauchen also einen neuen Glauben. Wir müssen Gott wieder vertrauen. Er versenkt den Berg der Schuld im tiefsten Meer, wenn wir nicht daran zweifeln, dass Jesus am Kreuz für uns gestorben ist.

Glaubt, vertraut darauf, dass wir die Vergebung schon bekommen haben. Wir leben mit Gott, weil uns vergeben wurde, und nicht damit uns vergeben wird.

Die Bedingung ist, dass auch wir bereit sind, anderen zu vergeben und damit aus dem Kreislauf der Vergeltung auszusteigen und die Gerechtigkeit Gott zu überlassen und selbst mit Gottes Hilfe das in Ordnung bringen, wo wir aneinander schuldig geworden sind.

In Vers 24 geht es also nicht darum, dass wir Gott sagen können, was er tun soll, sondern um die Bitte um Vergebung unserer Zielverfehlung. Denn im nachfolgenden Vers geht es um Vergebung. „25-26 wenn ihr … betet, so vergebt, … damit auch euer Vater, … euch eure Übertretungen vergibt.

Gott sucht nicht nach Religiosität, sondern nach einem Glauben, der uns verändert. Ein Glaube, in dem wir bereit sind zu vergeben und mit Gottes Hilfe Schaden wieder gut zu machen.

Im Tempel ist Jesus der Religiosität begegnet. Jesus zitiert Jesaja 56,7: „Mein Haus wird ein Bethaus genannt werden für alle Nationen, aber die Wirklichkeit ist: „Ihr aber habt es zu einer »Räuberhöhle« gemacht.“

Gott sucht Glaube. Ein Glaube, dass er unsere Sünden wegnimmt und wir durch den Heiligen Geist verändert werden.

Jesus zeigt mit dem Feigenbaum, dass der Tempeldienst am Ende ist, denn im Tempel findet er nicht die Früchte, die er sucht.

Was er sucht, ist nicht ein Handel mit Glauben, Vergebung und Schuld. Sondern einen Glauben, ein Vertrauen in Gott, dass durch den Kreuzestod des Messias alle Schuld in die Tiefen des Meeres versenkt sind und wir so fähig werden, uns mit Gottes Hilfe zu verändern.

In Jeremia 24 heißt es: 1 Der HERR ließ mich sehen – und siehe, zwei Körbe Feigen waren vor dem Tempel des HERRN aufgestellt … 2 Der eine Korb enthielt sehr gute Feigen wie die Frühfeigen und der andere Korb sehr schlechte Feigen, … 5 Wie diese guten Feigen, so sehe ich die Weggeführten von Juda zum Guten an, … 7 Und ich gebe ihnen ein Herz, mich zu erkennen, dass ich der HERR bin. Und sie werden mein Volk sein, und ich werde ihr Gott sein; denn sie werden mit ihrem ganzen Herzen zu mir umkehren.

Gott sehnt sich danach, dass wir uns nach dieser tiefen Verbundenheit mit ihm sehnen. Einen Glauben bei dem sich unser Herz und Verhalten ändert.

Hanspeter Obrist, März 2025

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