Das Kamel und das Nadelöhr

Das Gleichnis mit dem Kamel und Nadelöhr in Matthäus 19,16-26 hat schon oft große Wellen geworfen. Ist es wirklich so unmöglich, dass ein Reicher ins Himmelreich kommt? Der Schlüssel liegt in dem Zusammenhang, in dem diese Geschichte steht.

Jesus sagt: „Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt“ (Vers 24). Was löst das Bild aus?

In Vers 25 steht: „Als die Jünger das hörten, gerieten sie ganz außer sich vor Schrecken und sagten: Wer kann dann noch gerettet werden?“ Einige Jünger hatten ein Familienunternehmen. Sie waren nicht arm. Beim Thema „Arm und Reich“ ist immer die Frage, mit wem ich mich vergleiche. Im Verhältnis zu den Superreichen ist jeder arm, doch im Verhältnis zu anderen Leuten sieht das wieder ganz anders aus.

Um bei diesem Bild vom Reichen, dem Kamel und dem Nadelöhr eine Lösung zu finden, machen einige das Kamel klein, andere das Nadelöhr groß und weitere fragen sich, wer wirklich zu den Reichen zählt.

Wie ging man in der Vergangenheit mit diesem Text um?

Ab dem 4. Jahrhundert wurden die Christen nicht mehr verfolgt. Auch gut gestellte Leute wurden Christen. So fragte man sich, wie dieser Bibeltext zu verstehen sei.

Cyrill von Alexandrien (ca. 375-444 n.Chr.) schreibt in seinem Kommentar zu Lukas 18,25, dass man in der Seemannssprache ein dickes Seil als Kamel bezeichne. Allerdings gibt es dafür keinen Beleg. Aufgrund seiner Auslegung erschien jedoch ab dem 10. Jahrhundert in einigen Handschriften das Wort kamilos statt kamälos. Es ist nur eine kleine Änderung, aber schon hört sich alles nicht mehr ganz so unmöglich an. Ein Tau kann man mit viel Geduld zerkleinern, bis man es durch das Loch einer Nadel bringt. Doch was wäre dann die Aussage dieses Bildes?

Eine andere Variante ist, das Nadelöhr zu verändern. Oft hört man die Aussage, das Nadelöhr sei eine kleine Öffnung in oder neben einem der Stadttore Jerusalems. Verspätet ankommende Händler sollen mit ihrem Kamel durch dieses Tor auf den Knien rutschend in die Stadt gelangt sein, da alle anderen Stadttore aus Sicherheitsgründen in der Nacht geschlossen waren.

Diese Deutung hat vor allem Thomas von Aquin (1225-1274) verbreitet. Sie geht aber wohl auf den Matthäuskommentar von Paschasius Radbertus zurück, der ca. von 790-859 als fränkischer Benediktinermönch und Abt lebte.

Ulrich Wendel bezeichnet die Nadelöhr-Hypothese als Fake News: „Für dieses angebliche Tor gibt es nicht den geringsten historischen Hinweis! … Hätte man damals wirklich so ein unpraktisch kleines Tor gebaut?“ Dass es kleinere Tore für Menschen gab, ist bekannt, aber ob man dort tatsächlich ein Kamel hindurchzwängte, ist eine andere Frage.

Was hat Jesus gemeint?

Für seine Zuhörer war klar: Das Kamel ist das größte Tier, dem man in Israel üblicherweise begegnete. Das Nadelöhr ist die kleinste bekannte Öffnung. So unmöglich, wie das größte Tier durch die kleinste Öffnung geht, so unmöglich ist es, dass ein Reicher ins Himmelreich kommt.

Jesus gebrauchte gerne Bilder, die eine Situation sehr überspitzt darstellen. So spricht er in der Bergpredigt in Matthäus 7,5 vom Balken und vom Splitter im Auge. Das ist eindeutig sinnbildlich und nicht real gemeint. In Matthäus 23,24 sagt er: „Ihr blinden Führer, die ihr Mücken aussiebt, aber Kamele verschluckt!“ Auch hier verwendet Jesus in der Bildsprache das Kamel. Jesus hat es also nicht alles wörtlich, sondern gewisse Aussagen bildlich gemeint.

Was ist dann die eigentliche Aussage des Bildes?

Das Problem des Mannes, der die Frage nach dem ewigen Leben stellt, ist, dass er etwas tun will. „Meister, was muss ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ (Vers 16). Er will sich mit einer guten Tat das ewige Leben erkaufen.

Doch bei Jesus gibt es nur eine Lösung: Für Gott ist alles möglich“ (Vers 26).

Die Aussage von Jesus ist und bleibt radikal und erschreckend: Es ist unmöglich, dass ein Mensch – erst recht wenn er reich ist – aus eigener Kraft gerettet wird. Doch Gott macht Unmögliches möglich.

Dieser Mann will nicht von Gott abhängig sein. Doch genau das ist der springende Punkt: Wir sind von Gottes Gnade abhängig. Wir können uns das Himmelreich nicht verdienen, indem wir etwas Gutes tun.

Dass der Mann nicht loslassen kann, zeigt uns, dass sein Reichtum ihn in der Hand hat.

Wir besitzen nur, was wir auch weggeben können. Können wir das nicht, ist das Besitzverhältnis umgekehrt und unser Besitz hat uns in der Hand.

In diesem Text geht es nicht um Besitzlosigkeit. Es gab im Umfeld von Jesus auch reiche Frauen, die ihm dienten (Lukas 8,3). Sie mussten nicht alles aufgeben, um Jesus nachzufolgen. Auch von Zachäus verlangte Jesus nichts dergleichen (Lukas 19,8). Es geht in dieser Geschichte eigentlich nicht um Reichtum oder Armut, sondern um die Bereitschaft, etwas dankbar von Gott annehmen zu können. Dabei muss der Reichtum nicht in Geld oder materiellen Dingen bestehen. Man kann sich auch auf seine Besitzlosigkeit oder auf seine Werte etwas einbilden.

Ist das nicht ein Paradox, sein Geld weggeben zu müssen, um das ewige Leben zu erhalten?

Menschlich gesehen ist es ein Paradox. Jesus verlangt eine Spende; doch dabei geht es nicht um das Geld, sondern darum, woran das Herz eines Menschen hängt.

Es hat immer wieder Menschen gegeben, die dachten, mit einer Spende einen Ehrenplatz im Himmel zu erhalten. Doch darum geht es hier nicht.

Glauben bedeutet, auf Gottes Handeln und nicht auf das eigene Tun zu vertrauen, sich von ihm beschenken zu lassen und gerne von ihm abhängig zu sein.

Christsein ist keine Zweckgemeinschaft. Wir leben nicht mit Gott, um ewiges Leben zu erhalten. Vielmehr interessiert sich Gott für uns und schenkt uns seine ewige Gemeinschaft, wenn wir das dankbar annehmen.

Man kann sich das ewige Leben nicht verdienen. Gott schenkt es uns. Die Frage ist, ob wir dieses Geschenk annehmen oder ob wir selbst etwas tun wollen, um das ewige Leben zu erhalten.

Gibt es ähnliche Situationen?

Wie wir das Nadelöhr gerne groß machen und das Kamel zum Seil, so verändern wir auch gerne andere Dinge des Glaubens. Wir reden z.B. Gott klein: „Gott ist nicht so heilig.“ oder „Sünde ist nicht so schlimm.“ Dabei gehen die Gnade und unsere Dankbarkeit verloren. Gerechtigkeit ist, wenn der heilige Gott sich über die Umkehr eines Menschen freut, der sich ihm neu zuwendet. Das ist Gnade. Jesus hat dafür am Kreuz bezahlt.

Gott darf uns immer grösser werden. Ja, in seiner Gegenwart werden wir immer mehr über uns erschrecken, wie zutiefst verdreht wir sind. Doch damit können wir die Gnade auch immer dankbarer in Anspruch nehmen. Das ist christlicher Glaube.

Hier kommt die göttliche Liebe zum Ausdruck. Liebe schenkt, ohne eine direkte Gegenleistung zu erwarten. Die einzig wahre Antwort auf Liebe ist Liebe – jemanden zu beschenken, ohne eine Leistung zu erwarten. Alles andere ist eine Handelsbeziehung, und mit Gott kann man nicht handeln. Ihn kann man nur lieben.

Und da sind wir wieder bei diesem Mann, der sich das ewige Leben verdienen wollte. Er wollte sich auf diese Liebe nicht einlassen. Er liebte etwas anderes mehr als Gott. Anstatt Freude und Friede in Gott zu erfahren, wurde er zutiefst traurig.

Hier liegt die Herausforderung für uns: Gott von ganzem Herzen zu lieben und gerne von ihm abhängig zu sein, egal ob mit oder ohne Geld. Denn wer die Liebe Gottes entdeckt hat, für den wird alles andere zweitrangig.

Wenn mein Reichtum in Gott ist, dann macht mein Besitz nicht mehr meine Identität aus.

Text: Hanspeter Obrist

 

Leben mit der Bibel, Dienstag, 27. Oktober,  Radio Maria Schweiz

Die Sendung kann auch auf dem Podcast von Radio Maria Schweiz gehört werden: Link zu den Sendungen im Radio Maria  https://www.radiomaria.ch/de/podcasts?combine=Hanspeter+Obrist

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