Die von den Jesus-Nachfolgern erwartete Wiederkunft von Jesus blieb aus. Johannes war der einzige noch lebende Apostel. Mitten in diese spannungsvolle Situation hinein schenkt Gott Johannes Ende des ersten Jahrhunderts Visionen, um die wartenden Gemeinden in ihrer Bedrängnis zu stärken.
Wer war eigentlich Johannes? Sein Name bedeutet „Gott ist gnädig“. Er war von Beruf Fischer und hatte einen temperamentvollen Charakter. So bezeichnete ihn Jesus als Donnersohn (Markus 3,17). Er gehörte zum inneren Kreis der Jünger um Jesus. Er war der einzige Jünger, der unter dem Kreuz stand. Er hatte eine enge Beziehung zu Jesus. Er bezeichnet sich selbst als den Jünger, der sich von Jesus geliebt weiß (Johannes 13,23; 19,26; 20,2; 21,7.20). Ihm vertraute der sterbende Jesus seine Mutter an (Johannes 19,25-26). Als erster der Jünger wurde er Zeuge vom leeren Grab (Johannes 20,4-5). Johannes und Petrus bewirkten nach Pfingsten die erste Heilung (Gelähmter im Tempel, Apostelgeschichte 3,1-11). Sie traten öffentlich im Tempel auf und trafen auf den Widerstand der Autoritäten (Apostelgeschichte 4,1-2.13). Beide genossen das Vertrauen der Urgemeinde.
Nach der Zerstörung von Jerusalem im Jahr 70 wurde Ephesus zu einem Zentrum für Christen. Auch Johannes lebte in Ephesus. Im Jahr 95, während der Verfolgung unter Kaiser Domitian, wurde er auf die Insel Patmos verbannt, wo er Visionen hatte und sie im Buch der Offenbarung aufschrieb. Nach dem Tod Domitians (September 96) konnte Johannes nach Ephesus zurückkehren, wo er das Johannesevangelium schrieb. Er lebte noch bis zur Regierungszeit von Trajan (98–117) in Ephesus. Sein Grab ist in Ephesus.
In der Offenbarung (griechisch Apokalypsis/ἀπο-κάλυψις, wörtlich: „Entschleierung“) enthüllt Jesus durch Johannes den Gemeinden, was noch geschehen wird. Das Buch öffnet den Vorhang und zeigt Jesus in seiner ganzen Herrlichkeit und seinen endgültigen Sieg. Das Buch soll in den Gemeinden vorgelesen werden (Offenbarung 1,3), damit die Menschen auf dem Jesus-Weg Trost und Zuversicht erhalten und sich auf Jesus ausrichten.
Die Offenbarung möchte nicht Basis für Spekulationen sein. Viele Ausdrücke entstammen der prophetischen Tradition von Jeremia, Hesekiel, Daniel und Sacharja. Die Verwendung von Symbolworten ist typisch für die biblische Prophetie.
Das Werk ist nicht immer chronologisch, sondern enthält auch thematische Einlagen oder beschreibt etwas aus unterschiedlichen Perspektiven.
Die Offenbarung enthält keinen Fahrplan für die Endzeit, sondern Gottes Heilsplan. Sie ist die Erfüllung des „Vaterunser“: „Geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel so auch auf Erden.“
Die Offenbarung beschreibt, was passiert, wenn Gott eingreift. Gott sagt zu seiner bedrängten Gemeinde: „Ich habe alles im Griff.“ Das Wissen um die Vollendung in der Zukunft gibt den Gläubigen Kraft und Hoffnung für die Gegenwart.
Offenbarung 1 beginnt mit einer Einleitung und stellt die zentrale Person des Buches in den Mittelpunkt. Jesus ist die für uns sichtbare göttliche Person. Er liebt uns und bringt uns zurück zu unserer Bestimmung (Offenbarung 1,5). Er ist der Ursprung und die Quelle aller Dinge und wird alles zu Ende führen. Dreimal steht im Eingangswort: „Er kommt“ (Offenbarung 1,4.7.8). Der Begriff der Zukunft bedeutet sinnbildlich, dass jemand oder etwas auf uns zukommt. Wir gehen Jesus, dem Kommenden, entgegen.
Johannes schreibt an die sieben Gemeinden (Offenbarung 1,4). Gemeinden/Kirche (ἐκκλησίαίς, Ekklesiais) bedeutet wörtlich „die Herausgerufenen“. Die Sieben steht für ein abgeschlossenes, erfülltes Ganzes, das von Gott gewollt und eingesetzt ist wie das Werk der Schöpfung (1.Mose 2,2). In der Offenbarung tritt die Zahl „Sieben“ häufig auf. Die sieben Geister (oder: „der siebenfache Geist“) erinnern an Jesaja 11,2: „Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN (JHWH), der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Kraft, der Geist der Erkenntnis und Furcht des HERRN.“
Jesus ist die für uns sichtbare göttliche Person (Offenbarung 1,5). Nur die Offenbarung und das Johannesevangelium beschreiben Jesus als „Zeugen“ (griechisch „martys“; Johannes 5,31-32) und als „das Lamm“ (Offenbarung 5,6.8; Johannes 1,29), was Johannes als den gleichen Autor bestätigt. Die Bezeichnung „Herrscher über Könige“ war der Titel für den römischen Kaiser. Jesu Merkmal ist, dass er uns liebt. Er ist für seine Gemeinden der hohepriesterliche König und führt uns zu unserer Bestimmung zurück, als Priester (Gottes Repräsentanten) Gott und einander zu dienen (Offenbarung 1,6).
Wolken werden in der Bibel mit Gott in Verbindung gebracht. Wolken sind das Gewand der göttlichen Herrlichkeit (Offenbarung 1,7), ohne die niemand die Herrlichkeit Gottes ertragen könnte. Das Wort „Himmel“ heißt auf Hebräisch „Schamaim“ (שמים). Das bedeutet „dort Wasser“. Aus den Wolken kommt das Wasser zum Leben. Aus Gott kommt das Leben.
Die Wolken erinnern auch an Daniel 7,13-14: „Ich schaute in Visionen der Nacht: Und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer wie der Sohn eines Menschen … ihm wurde Herrschaft und Ehre und Königtum gegeben, und alle Völker, Nationen und Sprachen dienten ihm. Seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft, die nicht vergeht, und sein Königtum so, dass es nicht zerstört wird.“
Und Matthäus 24,30 „Und dann wird das Zeichen des Sohnes des Menschen am Himmel erscheinen; und dann werden wehklagen alle Stämme des Landes, und sie werden den Sohn des Menschen kommen sehen auf den Wolken des Himmels mit großer Macht und Herrlichkeit.“
Jesus ist die göttliche Schlüsselperson für uns Menschen. Wir warten darauf, dass er offen und für alle sichtbar wiederkommt. Für die Glaubenden kommt er zur Freude; für alle, die nicht wahrhaben wollten, dass er der Sohn Gottes ist, ist sein Wiederkommen ein Grund zum Jammern und Klagen (Offenbarung 1,7). Bereits Sacharja berichtet darüber: Sacharja 12,10: „Aber über das Haus David und über die Bewohnerschaft von Jerusalem gieße ich den Geist der Gnade und des Flehens aus, und sie werden auf mich blicken, den sie durchbohrt haben, und werden über ihn wehklagen, wie man über den einzigen Sohn wehklagt, und werden bitter über ihn weinen, wie man bitter über den Erstgeborenen weint.“
Das Alpha und das Omega (Offenbarung 1,8) sind die ersten und letzten Buchstaben des griechischen Alphabets (vgl. Offenbarung 1,17). Dieser Ausdruck wird sowohl für den Vater als auch für den Sohn benutzt. Gott in Christus schließt alles mit ein. Er ist der Ursprung und die Quelle aller Dinge und er wird alles zu Ende führen.
Die Formulierung „Gott, der war, der ist und der kommt“ (Offenbarung 1,8) drückt aus, dass Gott konstant ist. Genau so stellt sich Gott auch dem Mose vor: „Ich bin“ (2.Mose 3,14).
Den Römern diente Patmos (Offenbarung 1,9) als Verbannungsort. Die römische Regierung hatte Johannes dorthin ins Exil geschickt, weil er treu das Evangelium verkündete.
Johannes wurde mit der Verbannung von den Römern zum Schweigen gebracht. Er leidet darunter. Aus Gottes Perspektive ist dies jedoch eine Zeit, die für die zukünftigen Generationen zum Segen wird, indem er ihn ein Buch schreiben lässt (Offenbarung 1,11.19).
Der hier erwähnte „Tag des Herrn“ (Offenbarung 1,10) bezeichnet abweichend von anderen Stellen in der Bibel den Sonntag. Es war der Tag, an dem die Jünger gewöhnlich zusammenkamen, um das Brot zu brechen (Apostelgeschichte 20,7). Es ist buchstäblich „der dem Herrn gehörende“ Tag (κυριακός / küriakos).
Johannes hört eine Stimme (Offenbarung 1,12). Das Geheimnis der Offenbarung ist, dass hier nicht einer philosophiert, sondern eine Botschaft von Gott niedergeschrieben hat. Johannes hört die Stimme von Jesus und schreibt auf, was er sieht und hört. Wenn unser Ohr aufgeht und wir anfangen zu hören und zu verstehen, was Gott uns sagen will, geschieht eine große Veränderung in unserem Leben. Es braucht eine neue Blickrichtung: Gott liebt uns und meint es gut mit uns. Es ist eine Grundentscheidung, was wir sehen wollen: Sehe ich in allem, was mit mir geschieht, einen Gott, der es gut mit mir meint oder sehe ich einen Gott, der mir etwas vorenthalten will?
Als Johannes sich umdreht, sieht er Jesus inmitten von sieben goldenen Leuchtern. Sie sind nach Vers 20 ein Bild für die sieben Gemeinden. Sieben Lampen erinnern an den Menora-Leuchter. Er hat sieben Lampen und erleuchtete das Heiligtum in der Stiftshütte (4.Mose 8,2). Im Tempel waren es zehn Leuchter (2.Chronik 4,7).
Die Bezeichnung „Menschensohn“ (Offenbarung 1,13) bedeutet „in der Gestalt eines Menschen“. Es ist die Eigenbezeichnung von Jesus. In Hesekiel 1,26 steht: „oben auf ihm (auf dem Thron) eine Gestalt, dem Aussehen eines Menschen gleich.“
Jesus als hohepriesterlicher König ist inmitten seiner Gemeinden (Leuchter). Wir leben vom Geheimnis seiner unmittelbaren Gegenwart. Das ist die verborgene Kraft in aller Ohnmacht. Christus schenkt uns seine Nähe.
Das zweischneidige Schwert (Offenbarung 1,16) im Mund von Jesus erinnert an Hebräer 4,12: „Denn das Wort Gottes ist … schärfer als jedes zweischneidige Schwert … zur Scheidung von Seele und Geist, … ein Richter der Gedanken und Gesinnungen des Herzens“. Schon Jesus hat gesagt: „Ich bin in diese Welt gekommen, damit sich an mir die Geister scheiden“ (Johannes 9,39). Mit unserer Reaktion auf die Worte Jesu sprechen wir uns selbst das Urteil.
Im Angesicht des göttlichen Jesus verlässt Johannes all seine eigene Kraft (Offenbarung 1,17). Der Zuspruch an Johannes ist: „Fürchte dich nicht. Ich habe die Schlüssel zum Tod“ (Offenbarung 1,17). Jesus hat alle Autorität.
Text: Hanspeter Obrist
Apokalypse – Das biblische Buch der Offenbarung
Das Buch der Offenbarung (1)
Briefe aus dem Himmel (2)
Jesus sorgt sich um jede Gemeinde (3)
Ein Blick auf den Thron Gottes (4)
Wer ist würdig? (5)
Das Lamm enthüllt die Geheimnisse (6)
Rettung kommt von Gott (7)
Die Antwort auf die Gebete der Heiligen (8)
Das Böse hat Grenzen (9 und 10)
Gott sucht Anbeter (11)
Die Frau und der Drache (12)
Der Drache mobilisiert die ganze Welt (13)
Die Ernte (14)
Der Mensch verharrt in seiner Auflehnung gegen Gott (15-16)
Babylon und ihr Fall (17-18)
Das große Halleluja (19)
Die letzte Einladung (20)
Das himmlische Jerusalem (21)
Das Schluss-Statement von Jesus (22)
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Danke Hanspeter, für diese „Einnordung“. Besonders Deine Hilfestellung darin, dass Du den Blick vom „Spekulativen“ hin zu dem „mutmachenden, stärkenden Blick auf den sich als letztgültig mächtigen Gott erweisenden in Jesus Christus“ im Umgang mit dem Buch der Offenbarung. Das habe ich in solcher Klarheit bisher nirgendwo formuliert gefunden und ich empfand es als erfrischend korrigierend:-)
Was mich nachhaltig irritiert, ist Deine zeitliche Einordnung von beiden johannischen Texten (Evangelium und Offenbarung), die Du in die Zeit NACH der Zerstörung Jerusalems verortest?! Wie erklärst Du, dass dieses Ereignis nicht einer Zeile wert befunden wurde? Auch hätte Johannes bei Niederschrift weit über 100 Jahre als sein müssen, wenn Deine zeitliche Einordnung stimmen sollte? Könntest/würdest Du mich da mal aufklären?
In Christus Dir verbunden,
Klaus O.
Hallo Klaus, die Datierung erfolgt aus der Tatsache, dass Johannes auf Patmos war und Domitian unerwünschte Christen dorthin deportierte. Das Alter von Johannes wissen wir von der Bibel her nicht. Doch als Jesus um das Jahr 30 seinen öffentlichen Dienst begann, war er sicher über 15 Jahre. Er scheint auch in den Evangelien eher der jüngere gewesen zu sein, da er im Schatten von Petrus in der Apostelgeschichte erwähnt wird. Nach dem Johannesevangelium kannte er Johannes den Täufer sehr gut. Wahrscheinlich war er einer der Schüler, die dann Jesus nachfolgten. Juden gehen in jungen Jahren in ein Jeschiwa und lernen von den Rabbis. Macht für mich einfach Sinn.
Das er das Evangelium nach der Offenbarung schrieb, ist eine Variante, die mir sehr logisch erscheint. Da er nun wusste, dass es noch länger dauert, bis Jesus kommt, möchte er noch die wichtigsten Begegnungen von Jesus aufschreiben. Das Johannesevangelium ist von der tiefen Offenbarung über Jesus geprägt (Im Anfang war das Wort …). Auch die Beschreibung als Lamm Gottes. Das macht für mich einfach einen Sinn. Natürlich kann man das auch anders einordnen. Dem Inhalt macht es keinen Abbruch.