Obwohl der Kreis der Holocaust-Überlebenden täglich kleiner wird, steigt der Bedarf an psychologischer Betreuung: Wenn das soziale Netz im Alter schwächer wird, werden die Erinnerungen noch belastender.
Giselle Cychowicz wollte sich eigentlich schon in Pension verabschieden. Weil der Gesprächsbedarf bei Holocaust-Überlebenden aber das Angebot weit übersteigt, arbeitet sie auch mit fast 91 Jahren noch weiter.
Cychowicz hat mit niemandem über ihre Schoah-Erlebnisse gesprochen, nicht einmal mit ihrem Psychoanalytiker, der selbst Jude war. Ein Film über den Eichmann-Prozess war dann der Auslöser. „Es kam dann alles aus mir raus, wie aus einem Geysir.“
Aber öffentlich darüber reden konnte sie erst, als sie nach 44 Jahren in den USA nach Israel übersiedelte. „Da konnte ich zum ersten Mal sagen: Ich bin eine Holocaust-Überlebende, und ich schäme mich nicht mehr dafür. Das war 50 Jahre nach der Schoah.“
In Israel suchte sie eine Arbeit und kam zu Amcha, dem Nationalen Zentrum für psychosoziale Unterstützung der Holocaust-Überlebenden. Amcha, was auf Hebräisch „eine/r von uns“ heißt, wurde 1987 als Selbsthilfeorganisation von Holocaust-Opfern in Israel gegründet.
Inzwischen sind 400 Psychologen im Einsatz und kümmern sich um die Holocaust-Überlebenden, von denen laut Schätzungen rund 180’000 in Israel leben. Obwohl jeden Tag 30 bis 40 von ihnen sterben, wächst die Zahl Hilfesuchender, die sich an Amcha wenden, immer noch von Jahr zu Jahr. 20 657 Menschen nahmen 2017 Unterstützung in Anspruch. Damit hat sich ihre Zahl binnen zehn Jahren fast verdoppelt, 2007 waren es 10 609.
„Im Alter werden die traumatisierenden Erinnerungen zur Belastung, wenn das soziale Netz schwächer wird, die Einsamkeit zunimmt, Partner und Freunde sterben“, sagt Lukas Welz, Vorsitzender von Amcha Deutschland, das 1988 gegründet wurde und die Arbeit in Israel unterstützt. Im Alter verstärken sich auch Ängste. Denn alt zu sein, bedeutet schwächer zu werden. Wer schwach ist, das lehrte der Holocaust, überlebt nicht.
Obwohl sich Cychowicz „schon ein paar Mal von Amcha in die Pension verabschiedet hat“, betreut sie noch immer drei Patienten.
Diese Menschen hätten all die Probleme, die man im Alter habe. „Dazu kommt, dass viele einsam sind, weil sie Angehörige verloren haben. Das wird ihnen oft erst jetzt bewusst. Und die Erinnerungen, die sie quälen und die jemand, der das auch erlebt hat, besser verstehen kann.“ Deshalb macht die rüstige Psychologin weiter: „Ich habe ein Motto: Ich höre nicht auf, Leute zu behandeln, bis sie sterben. Wir können für Verluste und Demütigungen, die diese Menschen erlitten haben, etwas zurückgeben: Dasein und zuhören.“ mehr Informationen
Als Gisela Friedmann wurde Giselle Cychowicz 1927 in der damaligen Tschechoslowakei geboren. Später besetzten die Ungarn das Gebiet Karpato-Rus und ihre Heimatstadt Chust; sie kollaborierten mit den Nazis. Ein Jahr vor Kriegsende, im Mai 1944, stieg Gisela Friedmann an der Rampe von Auschwitz/Birkenau aus dem Zug. Ihr Vater kam in ein Arbeitslager, die Mutter, ihre Schwester und sie in Baracke 16 des C-Lagers. Bis Oktober 1944 gelang es den Frauen zusammen zu bleiben, dann wurden die Töchter in das Arbeitslager Mittelsteine transportiert, die Mutter blieb in Auschwitz. Der Vater kehrte nach Monaten Schwerstarbeit im Bergbau Buna-Monowitz in das Vernichtungslager zurück. Er wurde am 7.Oktober 1944 vergast.
Giselle Cychowicz kehrte mit der Schwester dennoch nach Chust zurück, denn dort, zuhause, so hatten sie zufällig erfahren, warteten ihre älteste Schwester und die Mutter auf sie.
Die vier Friedmann-Frauen emigrierten 1948 in die USA, wo Giselle ihren Ehemann Yitzak Anfang der 1950er Jahre kennenlernte. Sie begann mit ihrem Psychologiestudium, als die Kinder zur Schule gingen. 1992 siedelte sie nach Israel über.
Giselle Cychowicz ist überzeugt davon, dass die Therapiestunden auch für verwirrte Personen sinnvoll sind. Sie würden sie aus akuten Krisen herausführen und in die Normalität zurückbegleiten.
Täglich sterben dreißig bis vierzig Holocaust-Überlebende. Ihre Kinder erkennen mehr und mehr, wie auch sie von den Erlebnissen der Eltern geprägt worden sind. Sarah Weißhaupt, zweite Generation, Tel Aviv:
„Mein Vater schwieg, meine Mutter dagegen redete unablässig über den Holocaust, sie konnte überhaupt nicht aufhören damit.“ „Ich kannte jedes Detail, wie Mutter die Schoa überlebt hat. Aber das hätte sie alles einem Therapeuten erzählen sollen, nicht uns Kindern.“
„Ich war 27, aber ich wusste schon sehr viel länger, dass ich mit jemandem reden muss. Doch ich wusste nicht mit wem. Es war ja nicht so, dass ich nicht essen oder schlafen konnte oder weinte. Ich trug ständig eine Maske. Ich wollte nicht, dass sie sehen, dass es mir nicht gut ging. Und Mutter konnte hysterisch werden, wenn es um die Gesundheit ging. Wenn wir die Wohnung verließen, mussten wir einen Pullover mitnehmen, auch wenn draußen 30 Grad Hitze herrschten.“ mehr Informationen