Politik ist immer ein Wettbewerb zwischen miteinander konkurrierenden Erzählungen. Der Geschichte entsprechend, die man akzeptiert hat, sieht man eine Sache an und entscheidet sich folglich für eine bestimmte Politik oder Handlung.
Im Nahen Osten gibt es miteinander konkurrierende Geschichten. Es gibt die schiitisch, sunnitische, alawitische, die nichtreligiöse-westliche, die antisraelische Darstellung und andere.
Um Muslime zu vereinen, bedient man sich gerne der antisraelischen Geschichte. Doch im aktuellen Konflikt in Syrien taugt diese nicht wirklich, da nun auf einmal fundamentale sunnitische Muslime (Saudi Arabien & Co.) gegen sunnitische radikale Umsetzer (IS) zusammen mit oder doch gegen schiitische Gruppen kämpfen. Assad als Alewit (schiitische Absplitterung) erhält Unterstützung von Russland. Warum eigentlich? Weil jeder seine eigene Geschichte hat und schreiben will.
Die Aktionen des IS haben das realistische Ziel, immer mehr Muslime an allen Orten auf seine Seite (Geschichtsanschauung) zu ziehen. Muslime sollen dämonisiert werden, damit man sich gegen sie wendet und diese so radikalisiert werden und einen weltweiten Aufstand durchführen. Damit würde die Geschichte des IS Realität, dass nun die weltweite Herrschaft der Muslime angebrochen ist.
Die Kampfaktionen sind offensichtlich kontraproduktiv, denn sie bieten dem IS genau das, was er haben will. Auch eine militärische Niederlage wäre ein ideeller Sieg, der zu einer neuen weltweiten Radikalisierung gegen die „Bösen“ und zu einem neuen Alibi führen wird. Der IS kämpft nicht für einen lokalen Staat an einem bestimmten Ort, sondern ist eine weltweite ideelle Bewegung. Deshalb kann man ihn nicht wie den Nationalsozialismus in einem Kernland bekämpfen.
In unserer Geschichtsschreibung haben wir den Einfluss der Religionen ausgeblendet. Fakt ist, dass sich das „dar al-Islam“ seit dem Tod von Mohammed in einem Bürgerkrieg oder im Krieg der Kulturen und Traditionen befindet. Wenn wir diesen Aspekt einbeziehen, stellen wir fest, dass der Konflikt nicht von außen gelöst werden kann, sondern ein innermuslimischer Friedensplan entworfen werden müsste. Das Haus des Friedens (dar al-Islam) ist in Wahrheit ein Haus des Krieges. Und das islamische Haus des Krieges (dar al-Harb) ist zum Zufluchtsort kriegsmüder Muslime geworden.
Das zweite ist, dass man den innermuslimischen Konflikt auch nicht militärisch lösen kann. Das war der Weg, wie ihn das Haus Assad über Jahre gelöst hatte. Deshalb gibt es nur den Weg der Abgrenzung statt Einmischung. Neutral werden bedeutet nicht, die grauenvolle Brutalität und die reaktionären Werte des IS zu billigen, doch diese einzudämmen. Warum muss Syrien ein Land bleiben? Weil wir es in unseren Köpfen so festgelegt haben? Syrien hat vier unversöhnliche Parteien: Alewiten, Sunniten, Schiiten und Kurden. Auch im Balkan kam es zur Aufsplitterung Jugoslawiens in verschiedene Staaten. Solange wir aus unsere Perspektive Gut und Böse markieren wollen und einer Seite helfen, ihr Gebiet zu erweitern, verstricken wir uns in einen sich aufwiegelnden Konflikt, in dem sich Sympathisanten der unterschiedlichen Geschichtsschreibungen bekämpfen und der auch auf unsere Länder übergreift.
Die andere Frage ist zudem, warum Sanktionen eine Nation eher stärken als schwächen? Wahrscheinlich weil die sanktionierten Staaten vom Feindbild leben und dadurch abgelenkt werden, über die eigene Verantwortung nachzudenken. Um dies zu verhindern, sollte man sich statt auf militärische Hilfe eher auf landwirtschaftliche und humanitäre Hilfe konzentrieren. Wenn der Feind mir hilft, aber die eigenen Leute nicht, dann ist der Feind nicht mehr mein Feind. Das war die Art, wie Jesus sein Reich bauen wollte: Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen (Lukas 6,27).
Text: Hanspeter Obrist
Siehe auch: Andere besser verstehen lernen – Transkulturelle Kommunikation
Weitere Tipps und Hintergrundinformationen erhalten Sie in einer Präsentation mit Hanspeter Obrist (Erwachsenenbildner in transkultureller Kommunikation)