Je häufiger man sich mit dem »jüdischen Staat« befasst, desto relevanter und entscheidender wird die Stimme und Meinung der jüdischen Orthodoxie im Land. Die Orthodoxie als auch die Ultraorthodoxie hat die Chance genutzt und der verunsicherten Mehrheit ihre Werte angeboten oder aufgezwungen. Das Reformjudentum wird in Israel völlig verdrängt.
Es entstand ein Lager auf zwei Grundpfeilern, den Nationalreligiösen als Erben der alten orthodoxen Zionisten und den National-Ultraorthodoxen als Erben der früher antizionistischen Ultraorthodoxen. Beide zusammen machen etwa 1/5 der jüdischen Mehrheit in Israel aus – zwei Minderheitsgruppen, die heute gemeinsam erheblich größer sind als noch vor 20 Jahren und nun auch an einem Strang ziehen, um die nichtorthodoxe Mehrheit in Schach zu halten.
Orthodoxe Politiker bemühten sich in den letzen Jahren immer radikaler, das Staatsgesetz im Sinne der Vorschriften der Orthodoxie zu beeinflussen und das Alltagsleben der Mehrheit zu regeln. Die Bestimmungen gegen den Verkauf von nichtkoscheren Nahrungsmitteln für das Pessach-Fest während der Festwoche wurden verschärft und sollen in Zukunft noch strikter durchgesetzt werden. Restaurants werden mit Strafen belegt, wenn sie am Fastentag des Neunten Av, an dem man der Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die babylonische Armee im Jahre 587 v.d.Z. und durch römische Truppen im Jahre 70 n.d.Z. gedenkt, nicht schließen.
In Jerusalem demonstrieren Ultraorthodoxe gegen die Öffnung von Parkhäusern für die zahlreichen Besucher der Stadt am Schabbat oder gegen die Beschäftigung von Juden am Schabbat durch eine ansässige High-Tech-Firma. Der Kampf der Ultraorthodoxen gegen das Auftreten von Homosexuellen und Lesben auf der Gay Pride Parade in Jerusalem am Christopher Street Day wurde in den letzten Jahren nicht nur lauter und aggressiver, sondern auch gewalttätiger. 2009 verzeichnete die Polizei zudem eine Rekordzahl der von Ultraorthodoxen verübten Angriffe gegen christliche Einrichtungen oder Geistliche in Jerusalem. Hartnäckig wollen Ultraorthodoxe auch die Trennung zwischen Frauen und Männern in öffentlichen Verkehrsmitteln durchsetzen, selbst wenn die Autobusse nicht nur der ultraorthodoxen Gemeinschaft ihre Dienstleistung anbieten. Mit all diesen Methoden soll angeblich der jüdische Charakter des Judenstaates stärker zum Ausdruck gebracht werden.
Viele dieser Strömung sind der Meinung, dass die Aufgabe eines Teils von Erez Israel nicht nur ein politischer Fehler sei, sondern ein Verstoß gegen das göttliche Gesetz. Rabbiner kritisieren deshalb sogar die »heilige Kuh« der israelischen Gesellschaft – das Militär: Erkenne das Militär das Prinzip »Ganz-Israel« nicht an – wie im Falle des Rückzugs aus dem Gazastreifen 2005 -, betreibe es Verrat am jüdischen Charakter des Staates.
Das kostbarste Gut der israelischen Gesellschaft, der demokratisch legitimierte Staat, droht zerstört zu werden. Die politische Entwicklung in Israel in den vergangenen 15 Jahren ist eine Entwicklung hin zum Extremismus. Die israelische Gesellschaft muss selbst erkennen, dass dieser Weg, nur in die Katastrophe führen kann.