Über 1000 Tote forderte der Giftgas-Einsatz in Syrien im August 2013. Schuld war das Assad-Regime – glaubte man bis jetzt. Nun schreibt US-Enthüllungsreporter Seymour Hersh eine ganz andere Version.
Die Gäste aus Ankara erregten sogar den Unwillen ihrer Washingtoner Gastgeber, als sie bei einem Arbeitsdinner im Weissen Haus am 16. Mai 2013 ein militärisches Eingreifen der Vereinigten Staaten im syrischen Bürgerkrieg verlangten. Das Assad-Regime habe die von Obama ausgerufene «rote Linie» längst überschritten, warum also greife Washington nicht ein, wollte Erdogan wissen.
Drei Monate nach dem denkwürdigen Essen in Washington, bei dem neben Erdogan und seinem Aussenminister Ahmet Davutoglu auch US-Aussenminister John Kerry präsent war, ereignete sich nahe Damaskus ein Giftgasangriff, der Hunderte zivile Opfer forderte. Verantwortlich für das Verbrechen, so die nahezu einhellige Meinung in Washington und anderen westlichen Hauptstädten, sei das Assad-Regime gewesen.
Nun präsentiert der amerikanische Enthüllungsreporter Seymour Hersh in einem Beitrag in der «London Review of Books» einen anderen Schuldigen für das Massaker: Nicht Assad habe das Gas eingesetzt, sondern syrische Rebellen der radikalislamistischen Al-Nusra-Front. Und erhalten hätten sie den chemischen Kampfstoff vom türkischen Geheimdienst. Hersh berichtet unter Berufung auf Insider in Washington, schon im Herbst 2013 seien US-Dienste zur Überzeugung gelangt, die Regierung Erdogan sei in den Giftgaseinsatz verwickelt gewesen.
Die NSA schöpfte die Kommunikation türkischer Stellen nach dem Anschlag im August ab – und hörte angeblich zu, als sich türkische Geheimdienstler gegenseitig auf die Schulter klopften und ihre Genugtuung bekundeten. Ganz im Sinne Erdogans hatte Obama nach dem Giftgasmassaker eine weit umfassende US-Militäraktion geplant.
Dass Hersh womöglich auf der richtigen Spur ist, hatte sich schon Ende März angedeutet: Unbekannte fingen ein vertrauliches Gespräch zwischen Erdogans Aussenminister Davutoglu sowie Hakan Fikan, dem Chef des Geheimdienstes MIT, und mehreren hochrangigen Militärs ab und publizierten die Unterredung auf der Videoplattform Youtube. Die Runde erörterte, wie Ankara einen Vorwand für ein militärisches Eingreifen in Syrien erfinden könne – zum Beispiel durch einen vorgetäuschten «Raketenangriff auf die Türkei».
US-Geheimdienste scheinen von der Echtheit der Äusserungen überzeugt: Sie widerspiegelten das Bemühen Erdogans, das Blatt im syrischen Bürgerkrieg zu wenden und einen sich abzeichnenden Sieg des Assad-Regimes zu verhindern. «Wir wissen jetzt, dass es sich um eine verdeckte Aktion handelte, durch die Obama in einen Krieg getrieben werden sollte», sagte ein US-Geheimdienstler über den Giftgaseinsatz nahe Damaskus zu Hersh. In Washington wolle jedoch niemand darüber reden.