Vom Umgang mit anderen Menschen

In Matthäus fünf und sechs in der Bergpredigt geht es vor allem um uns selbst und unsere Beziehung zum Vater im Himmel. Im siebten Kapitel geht es um unser Verhalten gegenüber unseren Mitmenschen.

Jesus sagt in Matthäus 7,1-5: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! 2 Denn mit welchem Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden, und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden.“

Jesus vertieft diesen Grundsatz mit einer Illustration:

„3 Was aber siehst du den Splitter, der in deines Bruders Auge ist, den Balken aber in deinem Auge nimmst du nicht wahr?
4 Oder wie wirst du zu deinem Bruder sagen: Erlaube, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen; und siehe, der Balken ist in deinem Auge?
5 Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge! Und dann wirst du klar sehen, um den Splitter aus deines Bruders Auge zu ziehen.

Wir Menschen neigen dazu, andere zu verurteilen. Das sehen wir bei den Schriftgelehrten, welche sagten: „Mit den Zöllnern und Sündern isst er?“ (Markus 2,16). Und in Lukas 18,11 betet ein Pharisäer im Tempel: „Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die übrigen der Menschen: Räuber, Ungerechte, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner.“

Der Zöllner dagegen stand abseits und betete: „Gott, sei mir, dem Sünder, gnädig!“ Da sagte Jesus: „Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, im Gegensatz zu jenem; denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden; wer aber sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“

Wir wissen zu wenig, um gerecht urteilen zu können. Das Richten ist Gottes Sache. Nur Gott kann gerecht beurteilen, welche Hintergründe eine Tat hat und was ein Mensch verstanden hat und was nicht. Wenn wir richten, setzen wir uns eigentlich an Gottes Stelle. Deshalb wehrt sich Jesus in Lukas 9,54, als die Jünger Jakobus und Johannes sich wünschen, Feuer vom Himmel möge die verzehren, die sie nicht aufgenommen haben.

Paulus sagt in Römer 12,19: „Rächt euch nicht selbst, Geliebte, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes! Denn es steht geschrieben: »Mein ist die Rache; ich will vergelten, spricht der Herr.«“

Heißt das nun, dass wir tun und lassen können, was wir wollen und niemandem Rechenschaft ablegen müssen?

So könnte man das Gleichnis in Matthäus 13,24-30 verstehen. Jesus sagt: „Mit dem Reich der Himmel ist es wie mit einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. 25 Während aber die Menschen schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut mitten unter den Weizen und ging weg. 26 Als aber die Saat aufsprosste und Frucht brachte, da erschien auch das Unkraut. 27 Es kamen aber die Knechte des Hausherrn hinzu und sprachen zu ihm: Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er denn Unkraut? 28 Er aber sprach zu ihnen: Ein feindseliger Mensch hat dies getan. Die Knechte aber sagen zu ihm: Willst du denn, dass wir hingehen und es zusammenlesen? 29 Er aber spricht: Nein, damit ihr nicht etwa beim Zusammenlesen des Unkrauts gleichzeitig mit ihm den Weizen ausreißt. 30 Lasst beides zusammen wachsen bis zur Ernte, und zur Zeit der Ernte werde ich den Schnittern sagen: Lest zuerst das Unkraut zusammen, und bindet es in Bündel, um es zu verbrennen; den Weizen aber sammelt in meine Scheune!“

Jesus nimmt die Illustration vom Balken und Splitter im Auge. Da kommt es drauf an, WIE wir miteinander umgehen.

Das griechische Wort für „richten“ (krino / κρίνω) hat noch fünfzehn weitere Bedeutungen. Die Skala reicht von „(unter)scheiden“ über „urteilen“ und „richten“ bis „verurteilen“. In den 115 Bibelstellen wird es 85-mal mit richten übersetzt, neunmal mit urteilen. Als Nachfolger von Jesus sollen wir uns selbst im Licht Gottes beurteilen und neu ausrichten und uns als Gemeinschaft gegenseitig helfen. Aber wie?

Jesus sagt, wir sollen nicht aneinander herumnörgeln.

Manchmal sehen wir bei anderen ein Defizit, das wir selbst auch haben. Es ist einfacher, auf andere zu zeigen. In der Psychologie nennt man das Projektion. Ich nehme dem anderen das übel, was mich eigentlich bei mir selbst stört.

Man hat also selbst einen Balken im Auge und beschäftigt sich mit dem Splitter des anderen und will da etwas verändern.

Es ist leichter, sich abzulenken, als sich mit dem eigenen Leben auseinander zu setzen.

Und wenn es nur die Ausrede ist, dass man sich bei solchem „Bodenpersonal“ doch nicht auf Gott einlassen kann.

Die andere Variante ist, dass man glaubt, alle müssen die gleichen Probleme haben, die ich hatte oder habe.

Jesus sagt genau das Gegenteil. Kümmere dich zuerst um dein Unvermögen, dann wirst du barmherzig werden mit dem Splitter im Auge deines Nächsten.

Die Beseitigung des eigenen Balkens hat zur Folge, dass der Splitter im Auge der Glaubensgeschwister tatsächlich „nur“ ein Splitter bleibt.

Wenn unser Nächster sieht, dass wir selbst an uns arbeiten, dann wird er auch bereit sein, uns um Hilfe für seinen Splitter zu bitten.

Es ist äußerst störend, wenn etwas Kleines im Auge ist, das man selbst nicht sieht und nicht aus dem Auge bekommt.

Das ist das Bild der Gemeinde. Wenn wir eingestehen, dass auch wir nur mit der Hilfe Gottes überleben können, dann werden auch andere motiviert, bei Jesus Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Adolf Schlatter sagt in seinem Kommentar zu dieser Bibelstelle: „Jesus will uns nicht verbieten, einander behilflich zu sein, unser Böses zu lassen“. Und weiter: „Es ist Heuchelei, das Böse an den anderen zu bekämpfen und nicht an sich selbst.“

Es geht also um das WIE.

Ab dem Moment, in dem der Splitter tatsächlich als Splitter wahrgenommen wird, ist Hilfe und nicht mehr Verurteilung möglich.

Verurteilung legt endgültig fest, lässt dem anderen keine Chance mehr. Jesus handelt und verkündet anders: Bei Gott ist immer ein Neuanfang möglich.

Jesus zeigt uns den Weg des Aufrichtens statt des Richtens und Verurteilens.

Paulus sagt in Galater 6,1-2: „Brüder, wenn auch ein Mensch von einem Fehltritt übereilt wird, so bringt ihr, die Geistlichen, einen solchen im Geist der Sanftmut wieder zurecht. Und dabei gib auf dich selbst acht, dass nicht auch du versucht wirst! 2 Einer trage des anderen Lasten.“

Und in Römer 2,1: „Deshalb bist du nicht zu entschuldigen, Mensch, jeder, der da richtet; denn worin du den anderen richtest, verdammst du dich selbst; denn du, der du richtest, tust dasselbe.“

Dazu passt auch gut Vers 12: Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Denn darin besteht das Gesetz und die Propheten.“

Die sogenannte „Goldene Regel“ ist sowohl bei Juden und Christen als auch bei Muslimen bekannt. Doch sie wird in den drei Religionen unterschiedlich definiert.

Im Judentum heißt es: „Tue nicht anderen, was du nicht willst, dass sie dir tun.“ (Rabbi Hillel, Sabbat 31a). Es hat seine Grundlage in 3. Mose 19,18: „Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR.“

Im Islam gilt der folgende Satz: „Keiner von euch ist ein Gläubiger, solange er nicht seinem Bruder wünscht, was er sich selber wünscht.“ (Hadith, Nawawi, 13). Der entsprechende Koranvers ist Sure 48,29: „Diejenigen, die mit ihm gläubig sind, sind den Ungläubigen gegenüber heftig, unter sich aber mitfühlend.“

Jesus legt 3. Mose 19,18 so aus: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut ihr ihnen auch!“ (Matthäus 7,12).

Auf den ersten Blick scheinen diese drei Aussagen sehr ähnlich zu sein. Bei genauerem Hinsehen gibt es aber durchaus Unterschiede. So gilt das Gebot im Islam nur unter Muslimen. Gegenüber den Kufar (Ungläubigen) verhält man sich anders.

Die Goldene Regel der Juden beschränkt sich auf das Schädigen: „Tue nicht anderen, was du nicht willst, dass sie dir tun.“.

Jesus dagegen ist proaktiv. Er spricht nicht nur vom Unterlassen, sondern davon, über den eigenen Schatten zu springen und aktiv das zu tun, was wir uns selbst wünschen.

Im Zusammenhang mit dem, was Jesus zuvor über das Richten gesagt hat, bekommt dieser Vers eine neue Bedeutung. Ich helfe anderen so, wie ich es mir selbst wünsche.

Dass es Jesus hier um die Art und Weise geht, sehen wir auch in Matthäus 18,15-18: „15 Wenn aber dein Bruder sündigt, so geh hin, überführe ihn zwischen dir und ihm allein! Wenn er auf dich hört, so hast du deinen Bruder gewonnen. 16 Wenn er aber nicht hört, so nimm noch einen oder zwei mit dir, damit aus zweier oder dreier Zeugen Mund jede Sache bestätigt wird! 17 Wenn er aber nicht auf sie hören wird, so sage es der Gemeinde; wenn er aber auch auf die Gemeinde nicht hören wird, so sei er dir wie der Heide und der Zöllner! 18 Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr etwas auf der Erde bindet, wird es im Himmel gebunden sein, und wenn ihr etwas auf der Erde löst, wird es im Himmel gelöst sein.

Jesus verbietet nicht, dem Nächsten zu helfen und den Splitter zu entfernen. Aber man soll es im Bewusstsein der eigenen Erlösungsbedürftigkeit tun und nicht im Geist des Richtens. Sonst hilft man nicht, sondern verschlimmert die Situation. Das Endergebnis ist dann oft Verbitterung und Verhärtung.

Gerade wenn wir zugeben, dass wir keine Übermenschen sind, öffnen wir die Tür dafür, dass Menschen uns einladen, ihnen mit der Hilfe von Jesus das wegzunehmen, was sie daran hindert, klar zu sehen.

Hanspeter Obrist, Februar 2025

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