Im Vaterunser beten wir: „Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden“. Warum war die Botschaft vom Reich Gottes im Umfeld von Jesus herausfordernd?
Sendung Spiritualität Radio Maria Schweiz, Mittwoch 11. Dezember 2024
Die Vorstellungen der Schriftgelehrten vom Reich Gottes und die Botschaft Jesu standen im Widerspruch zueinander.
Jesus überrascht mit einem neuartigen Reich. In Matthäus 9,35 heißt es: „Jesus zog durch alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen, verkündete das Evangelium vom Reich und heilte alle Krankheiten und Leiden.“ Das Reich Gottes ist das große Thema Jesu.
Die letzte Frage der Jünger lautete: „Herr, stellst du in dieser Zeit das Reich für Israel wieder her?“ (Apostelgeschichte 1,6)
Zu Pilatus sagte Jesus: „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn mein Königtum von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Nun aber ist mein Königtum nicht von hier.“ (Johannes 18,36).
Und dann lehrt uns Jesus zu beten: „Dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf der Erde“ (Matthäus 6,10).
Was ist das Reich Gottes und was stellen wir uns darunter vor?
Die Sehnsucht nach besonders begnadeten Persönlichkeiten, die uns von den Übeln dieser Welt erlösen und in ein „gelobtes Land“ oder ein „goldenes Zeitalter“ führen, ist ein uraltes Bedürfnis der Menschen.
Nach heutiger, jüdischer Vorstellung folgt auf die Umkehr des Volkes zu den religiösen Bräuchen, die Erlösung von den Feinden Israels und der Fremdbestimmung. So gibt es den Ausspruch: „Wenn ganz Israel einmal den Schabbat hält, dann kommt der Messias“. Damit das Friedensreich des Messias kommen kann, braucht es nach jüdischem Verständnis die Rückkehr zum rabbinischen Judentum.
Wenn der Messias kommt, dann werden nach ihren Vorstellung alle Verbannten aus dem Exil zurückkehren, und Harmonie und Frieden werden sich ausbreiten. Nach einigen Propheten wird materieller Überfluss herrschen, der Boden wird fruchtbar, Kranke und Behinderte werden gesund und das menschliche Leben wird sich verlängern.
Das Ziel ist es, die Menschen in das verlorene Paradies zurückzubringen, wie es in Jesaja 11,6-9 beschrieben wird. Dort heißt es:
1 Aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.
2 Der Geist des HERRN ruht auf ihm: der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. 3 … Er richtet nicht nach dem Augenschein und nach dem Hörensagen entscheidet er nicht, … 5 Gerechtigkeit ist der Gürtel um seine Hüften …
6 Der Wolf findet Schutz beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Junge leitet sie. 7 Kuh und Bärin nähren sich zusammen, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. 8 Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter und zur Höhle der Schlange streckt das Kind seine Hand aus.
9 Man tut nichts Böses und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg; denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des HERRN, so wie die Wasser das Meer bedecken.
Für sich gelesen ist es eine Beschreibung einer Traumwelt. Verfeindete Tiere leben in friedlicher Koexistenz. Dem schutzlosen Menschen (Säugling) passiert nichts mehr. Ist das eine reale Beschreibung? Oder handelt es sich bei den Versen 6-8 wie auch in Vers 1 um ein Bild, um das zu beschreiben, was im folgenden Vers gesagt wird: «Man tut nichts Böses, … denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des HERRN». Es wird also das Wunder geschehen, dass die Menschen sich Gott zuwenden.
Der jüdische Gelehrte Maimonides (1135 -1204) schreibt im Mittelalter:
»Der Messias wird einst erstehen und das Königtum des Hauses David zu seinem ursprünglichen Stand bringen, zur Herrschaft, wie sie war. Er baut den (Beit) HaMikdasch, den Tempel in Jerusalem, wieder auf und sammelt die Zerstreuten Israels ein. In seinen Tagen werden alle (Torahgesetze) wieder so sein, wie es die damaligen waren. Man wird Opfer darbringen und die Brachjahre (Schmitta) und Jubeljahre (Jowel) beobachten, ganz nach der in der Torah enthaltenen Vorschrift.«
In heutiger Sprache kurz zusammengefasst: Der Messias ist ein Politiker, der Frieden in den Nahen Osten bringt. Unter ihm wird der Tempel wieder aufgebaut und alle Juden werden in Israel leben und die jüdischen Gesetze befolgen.
Zur Zeit Jesu gab es unterschiedliche Erwartungen an das Reich Gottes:
Die Sadduzäer verstanden darunter, dass sie sich mit den jeweiligen Herrschern arrangieren müssten, um in Frieden ihre Traditionen leben zu können.
Die Pharisäer erwarteten, dass einen Messias, der mit der Gottes Hilfe (also durch ein Wunder) die Römer vertreiben würde.
Die Essener lebten in ihrer eigenen Welt und zogen sich in geschlossene Gemeinschaften zurück.
Die Zeloten und Sikarier (Dolchmänner) waren zum Aufstand bereit. Deshalb waren die meisten Zeloten von Jesus und seiner friedfertigen Botschaft vom Reich Gottes enttäuscht.
Jesus spricht von einem ganz anderen Reich Gottes. Er hat kein irdisches Friedensreich errichtet.
Deshalb kann Jesus nach rabbinischer Auffassung nicht der Messias sein.
Es ist eine Herausforderung. Jesus erfüllt nicht unsere Erwartungen, sondern die biblischen Verheißungen. Und das geschieht manchmal auf unerwartete Weise.
Erinnern wir uns an die beiden Jünger, auf dem Weg nach Emmaus. Sie konnten nicht einordnen was mit Jesus an Karfreitag und Ostern geschehen war. Erst als Jesus es ihnen erklärte, verstanden sie, dass alles schon in der Bibel vorausgesagt war.
Wenn wir Gott in unser Denkschema pressen wollen, verpassen wir manchmal eine Begegnung mit ihm.
Deshalb muss es unser Wunsch sein, Jesus so zu sehen, wie er ist.
Jesus spricht von einem ganz anderen Reich Gottes, als es sein jüdisches Umfeld erwartet hat. Was ist das Besondere beim Reich von Jesus?
Jesus stellt alles auf den Kopf.
In einem irdischen Reich braucht man klare Ordnungen und die Möglichkeiten, sie durchzusetzen. Es braucht starke Persönlichkeiten und eine klare Hierarchie. Es muss klar sein, wer das Sagen hat. Das Eigentum muss geschützt werden und es braucht eine klare Rechtslage. Es muss auch geregelt sein, wie man Bürger wird. Die Rechte und Pflichten müssen bekannt sein.
In der Bergpredigt beschreibt Jesus seine Vision vom Reich Gottes. Gesegnet sind nicht die Starken, sondern die Menschen, die sich nach Gottes Hilfe sehnen. Aus Donnersöhnen will Jesus Diener machen. Statt von einer Herrscherpyramide mit Vorgesetzten und ihren Kompetenzen spricht er vom Zudienen. Es ist das Bild eines Baumes. Wer mehr Verantwortung übernimmt, steigt ab und trägt die anderen. Man sucht die Nähe zur Wurzel, von der die Kraft ausgeht.
Reich Gottes bedeutet freiwilliges „Absteigen“ – freiwilliges Loslassen. Jesus hat es in Markus 9,35 so gesagt: „Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.“.
In diesem Reich herrscht nicht das Schwert, sondern das Wort. Die Menschen werden werbend eingeladen, aber nicht gezwungen.
So kann Jesus in Johannes 6 zu seinen Jüngern sagen: «Wollt auch ihr weggehen? Simon Petrus antwortete ihm: Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes» (Johannes 6,67-69).
Zu diesem Reich gehört man nicht von Geburt an, sondern man muss sich für diesen Lebensstil entscheiden. Jesus sagt zu Nikodemus in Johannes 3,3: „Wenn jemand nicht von oben geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.“
Man kann es nicht einmal sehen. Um das zu verdeutlichen, sagt Jesus zu Nikodemus: „Das Licht kam in die Welt, doch die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Taten waren böse.“ (Johannes 3,19). In der Finsternis bleibt man, damit nicht offenbar wird, wie man ist. Aber Veränderung geschieht nur dann, wenn wir zugeben, dass wir Gottes Hilfe brauchen.
Im Reich Gottes geht es nicht darum, etwas darzustellen und zu leisten, sondern um das Eingeständnis, dass wir alle Veränderung brauchen.
Wir dienen einander, damit unser Vertrauen in Gott wächst und wir immer mehr wie unser himmlischer Vater werden.
In Lukas 6,36 kann Jesus sogar sagen: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“
Als Kinder Gottes sollen wir uns immer mehr vom himmlischen Vater prägen lassen.
Im Vers davor sagte Jesus: «35 Doch ihr sollt eure Feinde lieben und Gutes tun und leihen, wo ihr nichts zurückerhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.»
In der Bergpredigt in Matthäus 5,45 sagt Jesus: „damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“
Jesus ermutigt: Behandelt alle Menschen gleich und gebt so auch denen, die euch feindlich gesinnt sind, eine Chance zur Umkehr.
Gottes Gegenwart ist ein zentrales Thema. Gott mit uns – Immanuel. Jeder soll sich vom Geist Gottes prägen und verändern lassen.
Paulus sagt in Epheser 4,14-15: „Wir sollen nicht mehr unmündige Kinder sein, ein Spiel der Wellen, geschaukelt und getrieben von jedem Widerstreit der Lehrmeinungen, im Würfelspiel der Menschen, in Verschlagenheit, die in die Irre führt. 15 Wir aber wollen, von der Liebe geleitet, die Wahrheit bezeugen und in allem auf ihn hin wachsen. Er, Christus, ist das Haupt.“
Das Reich Gottes, wie Jesus es versteht, bedeutet, mit ihm verbunden zu sein.
Unser Leben in seinem Licht zu sehen und uns nach seiner Hilfe zu sehnen. Immanuel – Gott ist mit uns.
Es ist die tiefe Sehnsucht, dass Gottes Reich in unser Leben hineinkommt und auch andere davon angesteckt und begeistert werden.
Wie wird dieses Reich heute sichtbar?
Das Ziel der christlichen Gemeinschaft ist nicht der Aufbau einer Organisation, sondern die organische Stärkung aller, die mit Gott leben wollen.
Die einzelnen Glieder des Leibes sind in Christus, dem Haupt, miteinander verbunden (Epheser 4,15). Jesus sagte es so: „Geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern“ (Matthäus 28,19). Ein Jünger ist ein Lernender. Wir sollen also bereit sein, von Jesus zu lernen und immer in der Haltung des Lernenden zu bleiben. Wir stehen im Dienst für Jesus in dieser Welt. Wir repräsentieren Gott in dieser Welt.
Teresa von Avila (1515–1582), eine spanische Mystikerin aus dem 16. Jahrhundert, drückte es wie folgt aus: „Christus hat keinen Körper außer deinem. Keine Hände, keine Füße auf der Erde außer deinen. Es sind deine Augen, mit denen er sieht – er leidet mit dieser Welt. Es sind deine Füße, mit denen er geht, um Gutes zu tun. Es sind deine Hände, mit denen er die Welt segnet.“
Sie hat es etwas überspitzt formuliert. Gott kann mit oder ohne uns handeln, aber er will durch uns handeln, damit wir selbst gesegnet werden.
Das Reich Gottes ist auf Jesus, den König ausgerichtet, und bekommt an Pfingsten eine neue Dynamik – aber die Jünger Jesu hatten etwas anderes erwartet.
Bei der Himmelfahrt wollten sie wissen, ob Jesus jetzt Israel zu einem großen und mächtigen Reich machen werde (Apostelgeschichte 1,6). Jesus antwortet, dass alles seine Zeit hat.
Er verneint ein irdisches Reich nicht, aber zuerst kommt eine Zeit des Wartens auf den Heiligen Geist zwischen Himmelfahrt und Pfingsten, dann des Zeugens (eigentlich des Leidens) in aller Welt und dann die sichtbare Wiederkunft Jesu auf dieser Erde.
In Apostelgeschichte 1,8 sagt Jesus: „Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde.“
Seine Herrschaft beginnt ausgerechnet dort, wo man sich gegen ihn entschieden hat (Jerusalem), geht dann weiter ins Umland (Judäa), bis zu den verachteten Samaritanern und bis in alle Welt.
Als Botschafter von Gottes Reich wird man nicht glorreich empfangen. Im griechischen Urtext von Apostelgeschichte 1,8 stehen für „Zeugen sein“ die Worte: „Ihr werdet meine Märtyrer sein“ (ἔσεσθέ μοι μάρτυρες). Offener Widerstand wird die Überbringer der guten Nachricht von der Versöhnung begleiten. Der Heilige Geist gibt uns die Kraft, diese Spannung auszuhalten.
Mit der Himmelfahrt hat Jesus seinen ersten Auftrag auf der Erde vollendet. Er ist leibhaftig an einen realen, jenseitigen Ort gegangen. Er hat versprochen, dort Wohnungen für seine Nachfolger vorzubereiten (Johannes 14,2). Jesus ist nicht in eine Geisterwelt entschwunden, sondern sitzt zur Rechten des himmlischen Vaters (Apostelgeschichte 7,56).
Die beiden Engel machen den Jüngern deutlich, dass sie nicht in der Vergangenheit verharren, sondern mit der Vision der kommenden Königsherrschaft Gottes leben sollen (Apostelgeschichte 1,11). „Eines Tages wird er genauso zurückkehren, wie ihr ihn gerade habt gehen sehen“.
In seiner zweiten Predigt zeigt Petrus auf, dass eine Zeit der Umkehr und des Segens begonnen hat, in der Gott uns durch seinen Geist aufrichtet, bis später die Zeit der Wiederherstellung kommt (Apostelgeschichte 3,19-21). „19 So tut nun Buße und bekehrt euch, dass eure Sünden ausgetilgt werden, 20 damit Zeiten der Erquickung kommen vom Angesicht des Herrn“ … 21 „bis zu den Zeiten der Wiederherstellung aller Dinge“. Das wird geschehen, wenn Jesus wiederkommt.
Wir befinden uns immer noch in dieser Zeit des Umkehrens. In der ganzen Apostelgeschichte finden wir an keiner Stelle die ideale Kirche. Es ist sogar spannend, dass Antiochia zur Schlüsselgemeinde wird und nicht Jerusalem.
Wir leben also mitten in einer Zeit, in der wir uns von der neuen Art des Umgangs im Reich Gottes prägen lassen. Aber wir leben nicht in einer heilen Subkultur. Wir sind keine Überflieger, sondern leben aus der Kraftquelle Gottes als seine „Märtyrer“, die an und in dieser Welt leiden und sich in ihr nicht zu Hause fühlen.
Das Reich Gottes beginnt nicht damit, dass wir eine heile Welt schaffen, sondern dass wir Heil in diese Welt hineintragen. Nicht gute Lebensbedingungen verändern die Menschen, sondern veränderte Menschen verbessern die Lebensbedingungen. Das Reich Gottes wirkt nicht von außen nach innen, sondern von innen nach außen.
Das Reich Gottes ist oft anders, als wir es erwarten. Deshalb liegen Enttäuschung und Segen oft so nahe beieinander. In der Bergpredigt entfaltet Jesus die Prinzipien des Reiches Gottes. Jesus eröffnet eine neue Perspektive auf das Reich Gottes. Gott begegnet uns in unserer Not und hilft uns – aber manchmal ganz anders, als wir es erwarten.
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