Normative Schriften bei Juden, Christen und Muslimen
Juden, Christen und Muslime haben den gleichen Ausgangspunkt, entwickelten aber unterschiedliche Vorstellungen über das Paradies, Gott, das Menschsein und den Weg des Glaubens. Wie steht es mit den normativen Schriften?
Was völlig überrascht: Für Juden ist nur die Torah ein heiliges Buch. Das bedeutet, dass eigentlich nur die fünf Bücher Mose die Grundlage des Judentums bilden. Alle 613 Gebote und Verbote haben ihren Ursprung in der Torah. Sie wird im Laufe eines Jahres in den Synagogen einmal komplett vorgelesen. Daneben liest man auch Auszüge aus anderen biblischen Büchern. Doch wirklich normativ ist die Torah, welche von Mose aufgeschrieben wurde. Mose ist die richtungsweisende Person im Judentum.
In den Gebetszeiten werden auch Psalmen rezitiert. Als jüdisch anerkannt gelten die Bücher welche wir in der „Bibel im Alten Testaments“ ohne die Apokryphen finden. Juden bezeichnen diese Schriften als den „Tanach“. Er setzt sich aus der Torah, den Büchern der Propheten (Newi’im) und den Schriften (Ketuwim) zusammen. Der Tanach wurde um 100 festgelegt. In den Jeschiwas (jüdischen Schulen) werden hauptsächlich die jüdischen Kommentare zur mündlichen Überlieferung von Mose (Mischna) und die jüdischen Komentare zur Mischna (Gamara), die im Talmud zusammengefasst sind, studiert. Dabei fällt den Auslegungen der letzten Rabbiner mehr Gewicht zu, da sie die meisten Informationen hatten, um ihre Kommentare zu schreiben. Im Judentum konzentriert man sich beim Studium auf die verschiedenen Auslegungen der Rabbiner. So kann es vorkommen, dass auf einmal Dinge als „biblisch“ bezeichnet werden, obwohl sie nicht im Tanach, sondern im Talmud stehen. Diese rabbinische Auslegungskultur entstand im babylonischen Exil, nach der Zerstörung des ersten Tempels.
Die Torah ist auf Hebräisch geschrieben und wurde sprachlich nie revidiert. Da sich jede Sprache in der Praxis weiterentwickelt, entspricht das Hebräisch vom Tanach, nicht in allem dem heutigen Sprachgebrauch. Um die Torah verstehen zu können, muss daher heute ein Israeli, der Neuhebräisch (Iwrit) spricht, Althebräisch lernen. Die Torah und alle Gegenstände, auf denen der Name Gottes (JHWH) steht, sind heilig und dürfen nicht weggeworfen, sondern nur begraben werden.
Die normative Schrift der Muslime ist der Koran. In der Praxis gehören aber die Hadithen und Fatwas genauso zu ihrem Glauben. 1924 wurde die heute gültige Version des Korans in Ägypten festgelegt. Der Koran ist nur in arabischer Sprache gültig. Er wird als gottesdienstliche Handlung auf Arabisch rezitiert. Textkritische Forschung am Koran ist untersagt. Ein Koran, der ausgegraben wird, ist ungültig, weil er im Boden war. Einige glauben, der Koran sei eine Abschrift des Urkorans, welcher bei Allah ist. Wiedersprechen sich zwei Koranstellen, dann ist nach Sure 2,106 die spätere die gültige. Wobei zu beachten ist, dass die Suren im Koran nicht chronologisch geordnet sind. Da ein Teil der Stellen im Koran schwer verständlich sind, verwendet man für Übersetzungen Kommentare wie Tabari, Zmahsari, Baidawi und andere. Wichtig sind auch die Sammlungen der Aussprüche und Geschichten über Mohammed. Diese bezeichnet man als die „Hadithen“ (Sunna). Auch die Biographie von Mohammed ist richtungsweisend. Gelehrte fassen ihre Erkenntnisse in „Fatwas“ zusammen (verbindliche Rechtsgutachten). Diese können je nach muslimischer Richtung, die der Gelehrte vertritt, unterschiedlich sein. Sunniten und Schiiten sind sich über die Auswahl der Hadithen nicht einig. Strenge Muslime verstehen den Islam so, dass nur der ein Muslim ist, der so glaubt und lebt, wie es Mohammed getan hat. Mohammed ist die prägende Person im Islam.
Nach dem Koran gelten auch die Torah, der Zabur (Psalmen) und das Indschil (Evangelium) als göttliche Schriften (Sure 3,3 / 3,84). Viele Muslime glauben aber, dass diese verfälscht worden sind. Allerdings wird dies im Koran nicht behauptet und es gibt keine Funde, die diese Idee stützen. Vielmehr spricht der Koran gegen das falsche Zitieren (Sure 3,78).
Christen berufen sich auf die Bibel. Die evangelische Bibel enthält 66 Bücher (Altes Testament wie der jüdische Tenach), die katholische 73, weil auch die 7 alttestamentlichen Apokryphen dazu gezählt werden (auch andere Texte im Buch Jeremia, Esther und Daniel, ausgehend von der griechischen Übersetzung Septuaginta LXX). In der Bibel gibt es unterschiedlich geprägte Bücher: Lehrbücher, Prophetie, Poesie und Geschichtsbücher sind in einer Bibliothek zusammengefasst. Die Bibel wurde über einen Zeitraum von 1700 Jahren von 40 Schreibern verfasst. Am Text wird ständig geforscht und er wird durch Funde bestätigt oder es wird auf Textvarianten hingewiesen. Die Bibel ist die am besten dokumentierte Schrift des Altertums.
Das Erstaunliche ist, dass sich die Schriften der Bibel nicht widersprechen, sondern einander ergänzen. Dies wird damit begründet, dass der Geist Gottes diese Menschen inspiriert hat, so dass die Bücher trotz der schriftstellerischen Eigenart jedes Schreibers ein Werk Gottes sind.
Jesus brachte für seine Nachfolger die wegweisende Auslegung der jüdischen Schriften (Tanach) (Lukas 24,27). Er brachte kein Buch wie Mohammed und Mose; vielmehr begegnet man in seiner Person dem göttlichen Wort (Johannes 1,14). Zwei Jünger (Matthäus und Johannes) schrieben ihre Erlebnisse mit Jesus selbst auf. Matthäus, der ehemalige Zöllner, hatte sich wahrscheinlich Notizen gemacht, so dass er die Punkte der Bergpredigt (Matthäus 5-7) wiedergeben konnte. Markus war der Schreiber des Apostels Petrus und der Evangelist Lukas hielt die Nachforschungen von Paulus fest. In den Briefen des Neuen Testaments werden die Zusammenhänge der jüdischen Schriften und den Glauben an Jesus als den verheißenen jüdischen Messias erläutert. Später kamen Konzilsbeschlüsse und Dogmen der katholischen Kirche dazu, die aber nicht von allen Christen anerkannt werden.
Zusammenfassung: Der kollektive Ausgangspunkt aller Juden ist die Torah. Sunniten und Schiiten verstehen den arabischen Koran als heiliges Buch. Christen erkennen 66 Bücher als gemeinsame Grundlage an. Als einziges gemeinsames Schriftstück aller drei Religionen gilt die Torah.
Was sind die größten Gegensätze der drei Religionen und welche positiven Auswirkungen haben sie? Das betrachte ich im nächsten Artikel.
Text: Hanspeter Obrist
Vergleiche auch Artikel:
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Der Glaube von Juden, Christen und Muslimen ähnelt sich – zugleich gibt es aber auch Unterschiede
Quellen:
Indschil / Injil im Koran: Sure:Vers: 3:3, 3:48, 3:65, 5:46, 5:47, 5:66, 5:68, 5:110, 7:157, 9:111; 48:29, 57:27
Al-Ìmrán / Sure 3,3 : „ Er hat herabgesandt zu dir das Buch mit der Wahrheit, bestätigend das, was ihm vorausging; und vordem sandte Er herab die Thora und das Evangelium als eine Richtschnur für die Menschen; und Er hat herabgesandt das Entscheidende.“
Sure 3,48: «Wir glauben an Allah und an das, was zu uns herabgesandt worden und was herabgesandt ward zu Abraham und Ismael und Isaak und Jakob und den Nachfahren, und was gegeben ward Moses und Jesus und [anderen] Propheten von ihrem Herrn. Wir machen keinen Unterschied zwischen ihnen, und Ihm unterwerfen wir uns.»
Sure 3,78: Und fürwahr, unter ihnen ist ein Teil, die verdrehen mit ihren Zungen die Schrift (Thora), damit ihr es als aus der Schrift vermutet, während es doch nicht aus der Schrift ist. Und sie sprechen: «Es ist von Allah»; und es ist doch nicht von Allah; und sie äußern wissentlich eine Lüge gegen Allah.
Al-Baqarah / Sure 2,106: Welches Zeichen Wir auch aufheben oder dem Vergessen anheimgeben, Wir bringen ein besseres dafür oder ein gleichwertiges. Weißt du nicht, daß Allah die Macht hat, alles zu tun, was Er will?
Yünus / Sure 10,94 Und wenn du im Zweifel bist über das, was Wir zu dir niedersandten, so frage diejenigen, die vor dir die Schrift gelesen haben. Fürwahr, die Wahrheit ist zu dir gekommen von deinem Herrn; sei also nicht der Zweifler einer.