Missbrauch in der Katholischen Kirche Schweiz

19.9.23 Die Kritik gegenüber der Institution nimmt zu – es kommt sogar zu Drohungen. Gemäss «Blick» hat ein Unbekannter die Geschäftsstelle der Schweizer Bischofskonferenz in Freiburg in einer E-Mail bedroht. Im Schreiben soll am Freitag eine Protest-Demo um 18 Uhr angekündigt worden sein, falls bestimmte Forderungen nicht erfüllt werden. Zur Demo kam es schliesslich nicht. Dennoch hat die Bischofskonferenz die Kantonspolizei Freiburg informiert.

Stefan Loppacher, Geschäftsführer Fachgremium «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld», Schweizerische Bischofskonferenz, tritt mit dem Bischof von Chur, Joseph Bonnemain (75), am Dienstagabend 22:25 – 23:45 im SRF-«Club» auf. Wie SonntagsBlick enthüllte, hat der Vatikan Bonnemain als Sonderermittler gegen seine Bischofskollegen eingesetzt. Er muss verschiedene Vorwürfe prüfen. In einem Fall geht es um sexuelle Belästigung, in den anderen Fällen um Vertuschung. Doch nun steht auch Bonnemain in der Kritik. Denn Bonnemain ging nicht sofort zur Polizei, nachdem er von den Missbrauchsvorwürfen erfahren hatte. Die Bischöfe reagierten erst nach Recherchen von SonntagsBlick.

13.9.23 Einen Tag nach der Veröffentlichung des Berichts der Universität Zürich über Missbrauchs-Fälle in der katholischen Kirche gab es erste Konsequenzen.

Der Abt von Saint-Maurice trat in den Ausstand, der Bischof von St.Gallen reichte Strafanzeige ein, und ein Berner Kantonspolitiker forderte in einem Vorstoss die Sistierung der Zahlungen an die Kirche.

Der Bischof von Lugano, Alain de Raemy, musste vor den Medien zugeben, dass seine Diözese zahlreiche Dokumente über Missbrauchsfälle vernichtet hatte.

Der St. Galler Bischof Markus Büchel räumte «grosse Fehler» ein und kündigte eine Strafanzeige gegen Unbekannt an. Dabei geht es um sexuelle Übergriffe eines Pfarrers, der in der Universitäts-Studie den Übername «Pfarrer Tätscheli» erhalten hatte. Dessen mutmassliche Straftaten waren von Büchels Vorgänger Ivo Fürer ignoriert worden. Er habe diese Vorwürfe nicht erneut geprüft und wisse auch heute noch nicht, wer die Person sei. Doch jetzt werde er sich für ein schonungsloses Aufdecken und Aufarbeiten einsetzen, sagte Büchel.

Zum Schluss bestritt der Bischof von Sitten, Jean-Marie Lovey, vor den Medien jegliche Kenntnis und Vertuschung der Vorfälle. Gegen ihn ermittelt die SBK ebenfalls. «Ich habe kein Dokument aus diesem Bereich in den Archiven vernichtet», versicherte er. Sollte die Untersuchung über sexuellen Missbrauch und dessen Vertuschung ihn jedoch belasten, würde er zurücktreten, sagte Lovey.

In einer am Mittwoch eingereichten Motion forderte der Berner GLP-Grossrat Tobias Vögeli finanzielle Konsequenzen für die katholische Kirche und zwar bis ein «Konzept vorliegt, das die Übergriffe innerhalb der katholischen Kirche des Kantons Bern in den letzten Jahrzehnten umfassend und transparent aufarbeitet und in Zukunft verhindert».

12.9.23 Das Forschungsteam der Universität Zürich hat 1002 Fälle sexuellen Missbrauchs aufgedeckt. Bis zur Jahrtausendwende wurde systematisch vertuscht und es wurden kaum Fälle nach Rom gemeldet. Auch danach bleiben Meldungen Ausnahmen. Nur der Druck von Betroffenenorganisationen und Medien zwingt die Kirche in der Schweiz, Missbrauch zu verfolgen.

Die gute Nachricht zuerst: Die Forschenden der Universität Zürich hatten vollen Zugang zu den diözesanen Archiven. Kein Bistum hat gemauert, alle haben ihre Archive geöffnet.

1002 Fälle, 510 Beschuldigte und 921 Betroffene. Laut Historiker Lucas Federer dürften diese Zahlen «nur die Spitze des Eisbergs sein.» Denn die Arbeit des Teams hat erst begonnen. Die abschliessende Studie wird in drei Jahren vorliegen.

Die Schweiz ist kein Sonderfall. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache, auch was die Altersstruktur der Betroffenen angeht. 74 Prozent der identifizierten Fälle betrafen den sexuellen Missbrauch an Minderjährigen.

Dokumente aus katholischen Fürsorgeinstitutionen wie Heimen und Schulen konnten noch nicht berücksichtigt werden. Auch Ordensgemeinschaften und Neue geistliche Gemeinschaften und Bewegungen haben ihre Archive bisher nur sehr begrenzt zugänglich gemacht.

Während des Untersuchungszeitraums, der sich von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart erstreckt, herrschte eine Kultur des Wegschauens. Anhand von Fallbeispielen zeigen die Forschenden, dass Bistümer ihre Priester selbst dann schützten, wenn diese von weltlichen Gerichten verurteilt wurden.

Das Kirchenrecht verpflichtet den Ortsbischof seit 1917 zur kirchenstrafrechtlichen Untersuchung und Ahndung eines jeden Missbrauchsfall. Wie ihre Amtskollegen weltweit, haben die Schweizer Bischöfe das Kirchenrecht also wissentlich ignoriert.

Heute wissen wir, dass das Ignorieren des Kirchenrechts unter Bischöfen weltweit endemisch war. Es führte zur Einführung der unbedingten Meldepflicht im Jahr 2001. Allein, die Einführung der Meldepflicht änderte in der Schweiz wenig.

Ohne den Druck der Betroffenenorganisationen SAPEC, CEECAR und IGMikU und der Medien hätte sich am Agieren der Bistumsoberen bis heute nichts geändert. Ohne den Aussendruck, kein Wandel im Kircheninneren. Das ist eine Erkenntnis der Vorstudie.

Fast alle Bistümer – mit Ausnahme Basels – haben Akten vernichtet. Grösstenteils taten sie dies im Einklang mit dem Kanonischen Recht. Das CIC verlangt, Personalakten von Priestern, denen «Strafsachen in Sittlichkeitsverfahren» vorgeworfen werden, nach zehn Jahren zu zerstören. Allerdings sind Bistümer verpflichtet, vor der Zerstörung eine schriftliche Zusammenfassung der Vorwürfe anzufertigen und diese aufzubewahren. mehr Informationen

Bischof Joseph Bonnemain versprach auf der Medienkonferenz zur Pilotstudie, dass Aktenvernichtung nun verboten sei und dass eine nationale Meldestelle für Missbrauchsbetroffene geschaffen werde. «Wir müssen mit dieser Schuld leben und Verantwortung übernehmen», sagte er. Und er pflichtete Renata Asal-Steger bei: «Wir müssen uns für einen nachhaltigen Kulturwandel einsetzen.»  «Die kommende Generation hat das Recht auf eine geläuterte Kirche», sagte Bischof Bonnemain mit Nachdruck. Und er schloss sein Statement etwas pathetisch mit der Formulierung: «Nur eine gewaltfreie Kirche hat eine Daseinsberechtigung

Bischof Gmür spricht Klartext: „Der Schlussbericht der Universität Zürich zu den sexuellen Missbräuchen in der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz erschreckt und erschüttert.“ Zu viele kirchliche Führungspersonen hätten jahrzehntelang verantwortungslos gehandelt.

Vreni Peterer von der «Interessengemeinschaft für Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld» sagte in ihrem Statement: «Mein Ziel ist es, heute nicht wieder zu weinen. Das ist mir nicht gelungen.» Und fügte an: «Heute werden viele Betroffene weinen, wenn sie diese Zeilen lesen.» Sie betonte, dass hinter den 1002 Fällen Menschen und ihr Leid stehen.

Von der staatskirchlichen Seite sass die RKZ-Präsidentin Renata Asal-Steger auf dem Podium der Medienkonferenz. «Die Institution Kirche hat durch menschliches Fehlverhalten und systemische Defizite unsägliches Leid verursacht.» Sie erwähnte die zahlreichen Fälle von spirituellem und sexuellem Missbrauch und hielt fest: «Viele Verantwortliche in der Kirche reagierten mit Schweigen und Vertuschen auf diese Verbrechen. Das ist zutiefst beschämend.» Als Präsidentin der Römisch-katholischen Zentralkonferenz setze sie sich ich für einen «unerlässlichen Kulturwandel in der Kirche» ein. mehr Informationen

Was die Disskussion erschwert: Sexualität wird in der Kirchenlehre auf das Kinderzeugen reduziert und bleibt damit ein Tabuthema. Ein Kleriker wird auch als Amtsperson verstanden. Dadurch entsteht ein Dilema, welches zu einem rechtsfreien Raum führen kann. Das Seelsorge Geheimnis bringt eine doppelte Ebene. Man sollte den Begleiteten zur Anzeige ermutigen und zugleich das Vertrauen durch eigenes Handeln nicht verspielen. Neben dem öffentlichen Prozess gibt es auch andere Wege der Wiedergutmachung.

Jean César Scarcella wird Missbrauch vorgeworfen. Gegen ihn ermittelt der apostolische Sonderermittler Joseph Bonnemain. Am Mittwochmorgen, 13.9.23,  kündigte Scarcella an, dass er sein Amt ruhen lasse, bis die Ermittlungen abgeschlossen seien. Als Abt der Territorialabtei Saint-Maurice ist Scarcella Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz. Jean César Scarcella steht seit 2015 der Abtei Saint-Maurice vor. In der SBK leitet er das Departement «Glaube, Liturgie, Bildung, Dialog». Der 1951 in Montreux geborene Ordenspriester wurde ausserdem im August 2022 zum Abtprimas der Konförderation der Augustiner Chorherren gewählt. Die Schweizer Bischofskonferenz (SBK) umfasst derzeit 9 Mitglieder: Die Bischöfe der sechs Bistümer der Schweiz (Chur, St.Gallen, Basel, französische Schweiz, Sitten, Apostolische Administrator von Lugano), sowie die beiden Äbte der Territorialabteien St-Maurice und Einsiedeln.

Klerikalismus, Machtgefälle, eine ungesunde Sexualmoral, die Ächtung von bi- und homosexuellen Beziehungen und sexuellen Erfahrungen ausserhalb der Ehe sind Faktoren, die Missbrauch begünstigen, schreibt Sarah Paciarelli vom Schweizerischen Katholischen Frauenbund in einer Stellungnahme.

Das grosse Problem sieht er in der Machtfülle der Bischöfe. «Es gibt keine Gewaltenteilung.» Ebenfalls problematisch: jeder Bischof sei in seinem Bistum völlig autonom, sagt Jacques Nuoffer, Mitbegründer der Gruppe Sapec, der Vereinigung von Opfern von Übergriffen durch Priester in der Westschweiz. mehr Informationen

Der Jesuitenpater Hans Zollner war bis 2023 Mitglied der Päpstlichen Kinderschutzkommission. Er äussert sich zur gerade veröffentlichten Missbrauchsstudie der Universität Zürich und sagt, dass «der Bericht ein Weckruf sein soll an alle, die sich dem christlichen Glauben und der katholischen Kirche angehörig fühlen». Es gilt: Betroffene von Missbrauch anzuhören, vor ihren Geschichten und ihren Anliegen nicht wegzulaufen, ihren Schmerz und ihre Verwundungen soweit als möglich mitzutragen – und im Gespräch mit ihnen herauszufinden, was Kirche und Gesellschaft hilft, soweit als möglich Missbrauch zu verhindern. Das Ergebnis der Studie zeigt: Die Schweiz ist mit Blick auf sexuellen Missbrauch, der von kirchlichen Mitarbeitern verübt wurde, und auf seine Vertuschung keine Insel der Seligen. Die Schweizer katholische Kirche zeigt dieselben systemischen Fehler und Unzulänglichkeiten, die in der Kirche weltweit zu Verbrechen und ihrer Vertuschung geführt haben. Bei «fortschrittlichen» Pfarreien, Diözesen und Bischöfen haben die gleichen Mechanismen wie bei «konservativen» verhindert, den Missbrauch zu unterbinden und den Täter zu stellen.

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