Ukraine – Erinnerung an Afghanistan

Einige Gedanken von Ulrich Schmid aus der NZZ.

Moskau handelte in Afghanistan imperialistisch, völkerrechtswidrig und verbrecherisch: in der Ukraine genauso. Die Ukrainer kämpfen wie einst die Mujahedin für ihre Heimat, die Russen krepieren in der Fremde für nebulöse Floskeln. Die Mujahedin wurden unterschätzt, die Ukrainer nicht weniger. Als Moskau realisierte, dass man den Afghanen militärisch nicht beikam, begann ein skrupelloser Feldzug gegen die Zivilbevölkerung. In der Ukraine ist es dasselbe, und wieder sind riesige Fluchtbewegungen die Folge.

Moskau verlor damals und verliert heute Menschen, Material und Moral in fürchterlicher Kadenz. Wieder werden junge Menschen fast ohne militärische Ausbildung ins Gefecht geführt. Moskau belügt seine Soldaten und füttert sie mit falschen Informationen, die Verachtung für die eigenen Soldaten kennt keine Grenzen. Arme, Ungebildete und ethnische Minderheiten waren und sind das Kanonenfutter. Und wie in Afghanistan erlaubt Moskau auch heute seinen Soldaten Akte unfassbarer Brutalität.

Unterschätzt wurde und wird die Solidarität des Westens. Die Hilfe für die Mujahedin lief schleppend an, aber nach ein paar Jahren hatten die USA zusammen mit Pakistan und den Saudi effiziente Nachschubnetze aufgebaut. Heute statten die USA und Europa die Ukraine mit Geld, Waffen und geheimdienstlichen Erkenntnissen aus. Was sie wieder nicht schicken, sind Truppen.

Der Afghanistan-Feldzug war eine nationale Katastrophe. Der Krieg war eine Schande, die man vergessen wollte.

Der Volksdeputiertenkongress verurteilte den Krieg im Dezember 1989 als «moralischen und politischen» Fehler. Doch man blieb vage. Wie eine aufrichtige staatliche Erinnerungskultur auszusehen hätte, wusste niemand.

Von 1989 bis 1999 kämpften die Afghanistan-Soldaten darum, als vollwertige Veteranen anerkannt zu werden und die Finanzhilfen zu bekommen, die den Überlebenden «ehrenvollerer» Kriege – wie dem Grossen Vaterländischen – zustanden.

Putin hat den Afghanistan-Veteranen ein Denkmal gesetzt. Es steht bezeichnenderweise im Moskauer Siegespark und zeigt einen jungen Sowjetsoldaten, in der Linken den Helm, in der Rechten die Kalaschnikow. Stolz und aufrecht schreitet er voran: Aus den Verlierern sind Helden geworden.

Putin, an die Macht gekommen 1999, hat Russland zunächst beruhigt und dann die Geschichte resolut umgeschrieben. «Fehler» in Afghanistan wurden zwar eingestanden. Doch von militärischem Versagen oder gar Verrat war schon kurz nach seinem Amtsantritt nur noch selten die Rede. Der Afghanistankrieg, einst fast arglos als Beistand für die moskautreuen Kommunisten in Kabul deklariert, mutierte in Putins neuer Erzählung zunächst zum ersten Kampf gegen den islamistischen Extremismus.

Heute wirbt die Bewegung der Afghanistan-Veteranen für den Ukraine-Krieg. Dass aus einst zornigen, unabhängigen Gruppen eine aufgeblähte, staatshörige Bewegung werden konnte, macht klar, wie sehr sich Russland seit den nuller Jahren gewandelt hat. 

Putin sitzt fest im Sattel und befehligt eine Propagandamaschinerie, die es mit der sowjetischen aufnehmen kann. Putin hat in Tschetschenien blutig gezeigt, wohin zu viel Freiheitsliebe führt. 

In der Ukraine bekriegen sich Slawen. Entscheidend wird schliesslich der Zeitfaktor sein. Gut neun Jahre dauerte der Krieg in Afghanistan. Man wünscht es niemandem, aber alles deutet darauf hin, dass sich auch der Ukraine-Krieg noch lange hinziehen wird. Jahrelang werden auch die an Leib und Seele Verwundeten zurückkehren. Sie werden in ein Land kommen, das wirtschaftlich ermattet ist und kaum noch in der Lage sein wird, sie zu unterstützen.

Weitere Artikel: https://www.obrist-impulse.net/themen/ukraine

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