Die Russen erwarten die Fortsetzung des Krieges

Tatjana Stanowaja auf N-TV.de. Sie ist Politikwissenschaftlerin und Gründerin des Analysezentrums R.Politik. In seinen Newslettern informiert Analysezentrum westliche Institute und Nichtregierungsorganisationen in englischer Sprache über die Entwicklungen in russischer Politik und Gesellschaft.

Wir sehen, dass die Gesellschaft zum großen Teil hinter Putin steht und den Krieg unterstützt. Es ist aber wichtig, die Haltung zu Putin persönlich und zu seinen geopolitischen Entscheidungen zu unterscheiden. Denn oft stößt man auf eine Mischung aus einer negativen Haltung gegenüber Putin persönlich und gleichzeitig Verständnis und Unterstützung für seine geopolitischen Entscheidungen.

Das ist damit verbunden, dass der Staat die einzige Institution ist, die als Beschützer angesichts einer wachsenden Bedrohung durch die Außenwelt wahrgenommen wird. Ja, die Bevölkerung glaubt den Narrativen der Regierung, wonach die USA und die NATO seit Jahrzehnten aktiv daran arbeiten, Russland zu schwächen und zu zersetzen. Eine Gesellschaft, die keine entwickelten zivilen und politischen Institutionen hat, sieht in dieser Situation einfach keinen besseren Verteidiger als die Regierung. Aber gleichzeitig kann eine solche Unterstützung durchaus mit einer sehr kritischen Haltung gegenüber Putin und seiner Umgebung koexistieren.

Ob die Sanktionen wirken, ist eine komplizierte Frage. Einerseits können wir sagen, dass die antirussische Politik – Sanktionen und andere harte Maßnahmen – die Gesellschaft zusammenschweißen, weil sie praktisch keine Wahl hat. Den Menschen wird die Möglichkeit genommen, sich gegen die Regierung zu wenden. Denn dann wären sie mit der aggressiven Welt allein gelassen, die nur den Druck erhöht. Auf der anderen Seite richten die Sanktionen der Wirtschaft einen enormen Schaden an. In diesem Sinne funktionieren sie. Die Regierung gerät in eine verwundbarere Position. Sie muss ihre Politik anpassen, um unter solchen Bedingungen zu überleben.

Die größte Bedrohung für die Regierung ist die Regierung selbst. Fehler, die sie im Umgang mit der Gesellschaft und der Wirtschaft macht, stellen das größte Risiko für ihre Standfestigkeit dar. Und die Sanktionen bringen den Staat in eine Position, in der das Risiko, solche Fehler zu begehen, viel höher ist. Daher wird die Entfremdung zwischen der Regierung und der Gesellschaft allmählich zunehmen.

Wenn noch radikalere Kräfte an die Macht kämen – würde sich die Situation nicht in Richtung Frieden wenden. Aber ich bin mir sicher, dass der Ausweg aus der Situation mit der Ukraine in den innenpolitischen Veränderungen Russlands liegt. Der Staat hat ein Problem – geringe Effizienz. Und dieses Problem manifestiert sich während des Krieges in vollem Umfang.

Nicht nur in der Opposition, auch in Putins Umfeld versteht heute niemand, wohin Putin führt, was der Plan ist und wie Russland den Krieg gewinnen will – oder zumindest nicht verlieren.

Man beobachtet aktuell eine Welle der Aktivität und einen Ideenbrunnen: Wie Russland zu retten ist, wer bestraft oder gefeuert werden soll. Dies ist ein Versuch, die Unfähigkeit des Staates zu kompensieren, all diese Probleme zu lösen, Fragen zu beantworten.

Ich würde also eine Wendung Putins auf pragmatische Weise nicht ausschließen – wenn er versteht, dass es anders nicht funktioniert. Ich sehe aber noch nicht, dass er das verstanden hat.

Das langfristige Ziel bleibt dasselbe. Abwarten, bis die ukrainische Gesellschaft des Krieges müde wird, die Eliten Selenskyj stürzen und andere Kräfte an die Macht kommen, die sagen würden: „Es ist an der Zeit, mit Russland darüber zu diskutieren, wie man aus all dem herauskommt. Unter den Bedingungen, die Russland zufriedenstellen würden.“ Ich sehe keinerlei Pläne, Hinweise oder Leaks – nichts, was darauf hindeutet, dass Russland bereit ist, über den Abzug der Truppen oder Verzicht auf die annektierten Gebiete zu reden. Das Hauptziel ist es, die Ukraine als Projekt eines Anti-Russlands zu vernichten. Das ist es, was er als „Denazifizierung“ bezeichnet: Kiew muss Moskau Garantien geben, dass es keine „antirussische“ Politik verfolgen wird. Dann gibt es Frieden.

Putin kämpft nicht für etwas, das er der Gesellschaft geben muss. Er kämpft für die Erhaltung von dem, was nach seiner Ansicht von Rechts wegen Russland gehört. Allein die Tatsache, dass er kämpft, ist aus der Sicht der Mehrheit der Bevölkerung schon positiv.

Er schützt die Existenz Russlands. Wenn er den Krieg beendet, heißt es, dass der Staat Russland in wenigen Jahren in seiner jetzigen Form nicht mehr existieren wird. Deswegen ist die Fortsetzung des Krieges genau das, was die Gesellschaft von ihm erwartet.

In Bezug auf den Krieg sehen wir die Entstehung von zwei Polen: Die Radikalen, die eine weitere Eskalation fordern und die Pragmatiker, die eingestehen, dass Russland keine Ressourcen hat, um zu gewinnen. Die beiden Pole wachsen und verstärken sich und es ist unklar, wie das Gleichgewicht aussehen wird. Denn alles hängt von der Situation auf dem Schlachtfeld ab. Wir können nicht wissen, wie es weiter geht. Aber auf jeden Fall würde ich sagen, dass in naher Zukunft nichts Gutes zu erwarten ist.  mehr Informationen

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