Ukraine – über hundert Jahre ringen um Eigenständigkeit

Vor hundert Jahren wurde die Sowjetunion gegründet. Was die herrschenden Kommunisten als völkerverbindende Union anpriesen, war in Wirklichkeit eine brutale Zwangsehe – gerade für die Ukraine.

Es bedeutete zugleich das Scheitern des ersten ukrainischen Nationalstaates, der Ukrainischen Volksrepublik, die nur von 1918 bis 1920 Bestand hatte. In der Sowjetzeit wurde dieser Staat totgeschwiegen, aber für die heutige Ukraine ist er ein wichtiger Bezugspunkt. So verwendet Kiew dieselbe Symbolik – die blau-gelbe Flagge und den Dreizack – wie jene kurzlebige Republik.

Laut der letzten Volkszählung der Zarenzeit lebten um die Jahrhundertwende 95 Prozent der Ukrainer auf dem Land und gingen agrarischen Tätigkeiten nach.

Eine völlig andere Welt stellten die Städte dar. Sie wiesen keinen ukrainischen Charakter auf und hatten russisch geprägte Oberschichten.

Die Bevölkerung Odessas beispielsweise setzte sich zur Hälfte aus Russen und zu einem Drittel aus Juden zusammen. Als Ukrainer bezeichneten sich nur 9 Prozent der Einwohner.

Lemberg (Lwiw) besass vor hundert Jahren eine hauptsächlich polnische und jüdische Bevölkerung.

Mit dem Ziel, einen neuen «Sowjetmenschen» zu erschaffen, trieben die Kommunisten die Alphabetisierung der Bevölkerung voran. Der Anteil der schreibkundigen Ukrainer, der gegen Ende der Zarenzeit nur ein Fünftel betragen hatte, stieg bis 1926 auf das Doppelte.

Damit verbunden war eine energische Förderung der ukrainischen Sprache. Nachdem die zaristische Herrschaft deren Gebrauch noch verboten hatte, wurde Ukrainisch nun obligatorische Schulsprache. Ukrainische Bücher, vor der Revolution eine Seltenheit, dominierten plötzlich den Büchermarkt der Republik. Die Kommunisten reagierten so auf die Autonomiewünsche der Ukrainer. Allerdings war diese Politik nicht von Dauer; bereits in den dreissiger Jahren begann das Russische wieder zu dominieren.

Einschneidend war auch die neue Wirtschaftspolitik. Nachdem die Ukraine im 19. Jahrhundert von der Industrialisierung kaum erfasst worden war, förderte Moskau nun gigantische Industrieprojekte. Dazu zählte der 1927 begonnene Bau eines Wasserkraftwerks am Dnipro bei Saporischja. Das Wasserkraftwerk war damals das grösste Europas.

Der ostukrainische Donbass war landesweit mit Abstand der wichtigste Lieferant von Kohle.

1929 beschloss die Sowjetführung unter Stalin die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Privatbesitz an Land, Geräten und Vieh wurde abgeschafft, Bauern hatten sich zu Kollektivbetrieben (Kolchosen) zusammenzuschliessen.

Dies ging einher mit einer Kampagne gegen die wohlhabenderen Bauern (Kulaken), die als Feinde der Revolution verunglimpft und erbarmungslos verfolgt wurden. Ein weiteres Opfer der Repression war die Kirche, die als Machtfaktor auf dem Land eliminiert wurde.

Vielerorts kam es zu Revolten gegen die Verstaatlichung. Bauern gingen gegen Sowjetfunktionäre vor, schlachteten ihr Vieh oder flüchteten. Der Staat erstickte den Widerstand jedoch mit Gewalt und führte nach der Missernte von 1931 Beschlagnahmungen durch. Die Folge war eine Hungersnot, der allein in der Ukraine rund vier Millionen Menschen zum Opfer fielen. Da die Regierung die Katastrophe bewusst verschärfte und einen eigentlichen Vernichtungsfeldzug führte, um ihre Macht auf dem Land durchzusetzen, sprechen die Ukrainer von Holodomor (Tötung durch Hunger) und sehen darin einen Genozid.

Der Überfall Nazideutschlands 1941 brachte wenig später die nächste Heimsuchung. Nachdem Stalin zwei Jahre zuvor aufgrund seines Geheimpakts mit Hitler den Osten Polens und die heutige Westukraine an sich gerissen hatte, gelangte nun die gesamte Ukraine unter deutsche Okkupation. Sie war Brennpunkt zerstörerischer Kämpfe, bis die Wehrmacht 1944 abzog. Oft waren die militärischen Schauplätze dieselben wie 2022 im russisch-ukrainischen Krieg, darunter Kiew und die Übergänge an den Flüssen Donez und Dnipro.

Schätzungsweise sechs bis acht Millionen Einwohner der Sowjetukraine kamen ums Leben, bei einer Vorkriegsbevölkerung von rund 40 Millionen. Besonders grausame Verfolgungen durch die Nazis erlitten die Juden, zu erwähnen sind aber auch die vielen Todesopfer unter den Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern.

Russen und Ukrainer blicken sehr unterschiedlich auf den «Grossen Vaterländischen Krieg» zurück. Der Grund liegt darin, dass sich damals viele Ukrainer nicht mit einem, sondern gleich zwei tödlichen Feinden konfrontiert sahen – der Nazi- und der Sowjetdiktatur. Der Hass auf Letztere führte ukrainische Nationalisten zur Kollaboration mit den Besatzern, bis hin zur Teilnahme an der Judenverfolgung.

Dass Stalin ähnlich totalitär vorging wie Hitler, zeigte sich in der Deportation der gesamten krimtatarischen Bevölkerung und weiterer nichtslawischer Minderheiten. Besonders brutal waren die «Säuberungen» in der Westukraine, wo nationalistische Partisanen noch bis in die fünfziger Jahre Widerstand gegen die Sowjets leisteten.

Die verbreitete Darstellung, dass die Übertragung der Halbinsel Krim von der russischen an die ukrainische Teilrepublik im Jahr 1954 ein Geschenk Chruschtschows an «seine» Ukraine gewesen sei, ist jedoch stark simplifiziert. Der territoriale Transfer folgte primär einer administrativen Logik, da der gesamte Strassen- und Bahnverkehr mit der Krim über die Ukraine führte.

Zwischen 1950 und 1980 nahm die Bevölkerung der Ukraine um gut ein Drittel zu, auf 50 Millionen Menschen. Durch den Zustrom von Russen und die Russifizierung von Ukrainern dominierte die russische Sprache immer stärker. Obwohl die Ukraine mit ihren fruchtbaren Schwarzerdeböden einst die Kornkammer des Zarenreiches gewesen war, musste die Sowjetunion wegen der Ineffizienz ihres Agrarsektors in den achtziger Jahren rekordhohe Getreidemengen importieren.

Vor dem Hintergrund einer zunehmenden wirtschaftlichen Misere traf die Ukraine 1986 eine weitere von Menschen verursachte Katastrophe: Die Explosion eines Reaktors des Atomkraftwerks Tschernobyl. Die anfänglich von Desinformation und Schönfärberei geprägte Reaktion der Sowjetführung auf die Nuklearkatastrophe entlarvte ein weiteres Mal, welche Inkompetenz in der kommunistischen Führung herrschte und mit welcher Rücksichtslosigkeit Moskau der Bevölkerung in den Teilrepubliken begegnete.

Inspiriert durch die Unabhängigkeitsbewegungen in den baltischen Teilrepubliken und ermutigt durch die von Gorbatschow ermöglichten politischen Freiräume, gewannen auch in der Ukraine die kritischen Debatten an Fahrt.

Den gescheiterten Putsch reaktionärer KP-Führer in Moskau im August 1991 nahm Krawtschuk zum Anlass, die Unabhängigkeit auszurufen. Ein Referendum im Dezember bestätigte diesen Kurs, wobei alle Regionen zustimmten, selbst die Krim und der Donbass. Russland hat sich jedoch, wie die russische Militärintervention von 2014 und der Grossangriff von 2022 zeigen, mit diesem Lauf der Geschichte nicht abgefunden. mehr Informationen

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