Der Historiker Timothy Snyder auf t-online: Russland muss diesen Krieg zu seinem eigenen Besten verlieren. Denn sonst könnte sich das Land niemals von seinem imperialen Wahn verabschieden. Wenn Putin seine Position im Kreml gefährdet sieht – genau dann wird der Krieg enden. Falls Putin die Bedrohung rechtzeitig erkennt. Viel hängt davon ab, ob er dazu noch das nötige Maß an politischer Sensibilität besitzt.
Im Umkehrschluss tun die Ukrainer genau das Richtige, indem sie weiterkämpfen und Territorium für Territorium zurückerobern. Denn das ist das Einzige, was Putin unter Druck setzt: dass die Niederlagen in der Ukraine ihm ein Gefühl der Gefährdung seiner Machtposition in Russland vermitteln. Für ihn ist es schlimm, in der Ukraine zu verlieren. Aber es ist noch weit schlimmer, in Russland zu verlieren.
Das Lager der Kritiker ist gespalten. Auf der einen Seite stehen die Falken, die behaupten, Russland würde den Krieg schon gewinnen, wenn die Armee erst einmal „richtig“ zu kämpfen beginnen würde. Auf der anderen Seite stehen jene, die es für unsinnig halten, nun alle verfügbaren Ressourcen gegen die Ukraine aufzuwenden. Sie fürchten um Russlands Zukunft, wenn sich Staat und Armee völlig verausgaben. Zwischen diesen beiden Polen der öffentlichen Meinung muss Putin taktieren.
Putin zeigt deutliche Anzeichen eines Kontrollverlusts. Anfangs hat er immer nur von einer „militärischen Spezialoperation“ gegen die Ukraine gesprochen, das Wort „Krieg“ sogar verbieten lassen. Mittlerweile ist der Einsatz auch offiziell zu einem Krieg ausgeartet. Der zweite Fehler betraf die Teilmobilisierung: Die wollte Putin eigentlich unbedingt vermeiden, musste sie angesichts der Rückschläge dann aber doch ausrufen. Das war als Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Fraktionen im russischen Regierungsapparat gedacht, aber es verriet die Schwäche des Präsidenten. Seinen dritten großen Fehler machte Putin Ende September, als er die Separatistenführer von Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson als russische Marionetten die Annexionsverträge unterzeichnen ließ. Wenige Wochen später stand die ukrainische Armee wieder in der Stadt Cherson. Spätestens seit diesem Ereignis ist klar, dass auch Putin den Zwängen der Realität unterliegt. Nicht so wie 2014, als er sich die Krim nahm und damit durchkam.
Unter Druck muss Putin nun jeden Tag Entscheidungen fällen, die er nicht fällen will. Im Moment scheint er zumindest den Donbass unter seine Kontrolle bringen zu wollen, um eine Art Sieg verkünden zu können. Aber ihm fehlen schlichtweg die nötigen Kräfte, um dieses Ziel zu erreichen.
Die Ukrainer haben einen Großteil der russischen Armee zerstört und deren Schwächen offengelegt. Die Chinesen sehen jetzt, dass der Westen zu einem sinnvollen Sanktionsregime fähig ist. Und vor allem sehen sie, wie schwierig eine solche Offensivoperation für sie wäre. Im weitesten Sinne hat der Widerstand der Ukraine die Welt viel sicherer gemacht. Zu lange Zeit haben zu viele Menschen im Westen das russische Geschichtsnarrativ bedauerlicherweise ernst genommen, dass die Ukraine irgendwie keine richtige Nation sei. Die politische und militärische Führung der Ukraine erhält immer noch nicht genug Anerkennung für das, was sie vollbracht hat. Wenn die Ukraine siegt, würde das Russland langfristig sogar helfen. Nur eine militärische Niederlage kann in Russland die dringend notwendigen Reformen anstoßen.
Die erfolgreichen rechtsstaatlichen Demokratien in Europa, beginnend mit Deutschland selbst, entstanden nach eindeutigen militärischen Niederlagen, die sie in imperialen Kriegen erfahren haben.
Russland hat sich niemals ausführlich mit seiner kolonialen Vergangenheit auseinandergesetzt. Deshalb verhält sich Putin bis heute als brutaler Kolonialist: Er betrachtet die Ukraine als Objekt seiner kolonialen Gewaltfantasien.
Es kann in Russland weder ein Rechtsstaat noch eine lebendige Zivilgesellschaft entstehen, solange alles der Wiederrichtung des Imperiums untergeordnet und dem verlorenen Kolonialreich nachgetrauert wird. Solange die öffentlichen Debatten, mit den Kremlmedien an der Spitze, nur davon handeln, wie verachtenswert der Westen und die Ukraine seien, wird kein Wandel möglich sein. Und erst recht keine Demokratisierung.
Was der Amateurhistoriker Putin übersehen hat, ist die Tatsache, dass die Geschichte aufseiten der Ukrainer steht. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlitten die USA eine Niederlage in Vietnam, die Franzosen wurden in Algerien geschlagen: Mächtige Staaten wurden von kleinen besiegt. So wird es nun auch Russland in der Ukraine aller Wahrscheinlichkeit nach ergehen.