Veränderung muss von innen kommen

In der Ukraine löste die Befreiung von Cherson große Begeisterung aus. Doch wie wurde dies in Moskau aufgenommen? Nach der russischen Verfassung, gehört das Gebiet angeblich zu Russland, auch die Staatspropaganda hat die Annexion als Sieg in der sogenannten „militärischen Spezialoperation“ gefeiert. Nun steht das Gebiet aber nicht mehr unter russischer Kontrolle – wie reagiert also die russische Gesellschaft auf diese Widersprüche?

Diese Fragen hat die Herausgeberin der The New Times Yevgenia Albats, mit dem politischen Analysten Andrej Kolesnikow und dem Ethnologen Alexei Yurchak diskutiert. Einige Aussagen daraus.

Alexei Yurchak: Man kann nicht sagen, dass sie ihre Pläne jetzt ändern – weil diese Pläne von Anfang an durchkreuzt wurden. Daher sind die aktuellen Ereignisse an der Front eine Fortsetzung der ersten drei Tage. Russland wird immer weiter hinausgedrängt, immer mehr Gebiete aufgeben, und die Machthaber werden erneut versuchen, die Zielsetzungen anders zu formulieren. Weder die russische Bevölkerung noch die Armee sind besonders wild darauf, [bei dem Krieg] mitzumachen. Es herrscht Unverständnis.

Andrej W. Kolesnikow: Hier spielen Symbole eine Rolle, zum Beispiel die Blumen, von denen [die Propaganda] immer behauptet hat, dass man damit die russischen Truppen in Kyjiw begrüßen würde, und die jetzt das Symbol der Befreiung Chersons geworden sind. Die Menschen begrüßen ganz andere Streitkräfte mit Blumen – die ukrainischen.

Es gibt eine Gruppe in der russischen Elite (bzw. Parallel-Elite), die ziemlichen Einfluss gewinnt: Prigoshin und Kadyrow begrüßten den Rückzug und lobten General Surowikin. Dabei kommen interessante Sachen zum Vorschein, zum Beispiel, dass Prigoshins Worte plötzlich wichtiger sind als die Schoigus. Und Putin hat einfach geschwiegen.

Neuen Entwicklung passieren – die Revolte der Mobilisierten. Das sind nicht die Proteste, auf die wir alle warten, sie haben keine politische Bedeutung. Das sind Proteste von Leuten, die im Grunde vorhatten zu kämpfen, die das für ihre Pflicht hielten, die gleichwohl bereit waren, für Geld zu kämpfen – nur dass man ihnen dieses Geld nun nicht zahlt. Das ist ein sehr spezifischer Protest, unter anderem ein Protest der Angehörigen, der Ehefrauen und Mütter. Das ist auch so eine Sache, die im Hintergrund abläuft.

Insgesamt setzt sich der Trend fort, der sich schon abgezeichnet hat: Dass selbst Putins Befürworter diesen Krieg endlich mit Friedensgesprächen beenden wollen. Aber diese Gegenseite ist jetzt, da sie Erfolge erzielt, natürlich wenig bereit, Gespräche zu Bedingungen des Gegners zu führen.

Yurchak: Die Erwartung, dass sich irgendetwas ändert, liegt spürbar in der Luft: Entweder wird alles auseinanderbrechen oder es stehen große Veränderungen bevor.

Der Raum, in dem die Entscheidungen fallen und zu dem wir keinerlei Zugang haben, befindet sich in einem Zustand der Unberechenbarkeit, weil er die Folgen selbst überhaupt nicht hat kommen sehen, mit denen er konfrontiert ist. Deshalb ist es schwer, irgendwelche Szenarien durchzuspielen.

Ich bezweifle, dass in diesem System ein Umsturz möglich ist. Genauso wenig glaube ich an eine Revolution von unten. In solchen Diktaturen entsteht Bewegung von unten nur dann, wenn es Reformen gibt und sich ein Fenster der Möglichkeiten öffnet, so wie das in der Sowjetunion war. Das hat gar nichts mit einem Opportunismus der Massen zu tun, sondern damit, dass sie weder die Macht noch die Informationen noch die Ressourcen haben, um sich zusammenzutun. Es gibt keinen öffentlichen Raum, in dem man gemeinsam agieren könnte, oder wenigstens an [die Möglichkeit] glauben. Sobald der entsteht, gibt es auch Bewegung von unten.

Wenn es weder einen Umsturz noch eine Revolution von unten gibt, dann Reformen von oben, die zu irgendwelchen Abmachungen führen könnten, um Putin in eine Position zu bringen, die ihn beschützt und die mehr oder weniger künstlich ist (etwa der „nationale Leader“). Dann würde eine kollektive Führungsspitze eingerichtet, die versucht, die Beziehungen zum Westen und die zerstörten wirtschaftlichen Verbindungen wieder in Gang zu bringen.

Die Veränderungen könnten relativ schnell eintreten. Die breite Masse der Bevölkerung ist nicht bereit, die Verantwortung für diesen Krieg auf sich zu nehmen. Nicht, weil sie Opportunisten sind, sondern weil sie etwas moralisch nicht mittragen können, das sie nicht verstehen, das unmenschlich und irrational aussieht.

Kolesnikow: Während die Menschen dem Krieg anfangs keine Beachtung schenkten, weil er auf einer Parallelspur lief, wurde mit der Mobilmachung klar, dass sie die Verantwortung mit ihrem Anführer werden teilen müssen, dass sie dem nicht entkommen.

Die späte UdSSR mit ihrem Zynismus hatte in gewisser Weise ein positives Ziel angeboten. Das gemeinsame Werk war positiv, wir bauen etwas auf, wir haben Erfolgsgeschichten zu erzählen: Der Wettlauf ums All, Sputnik, Gagarin, die Bauprojekte in Sibirien, die berüchtigten Wasserkraftwerke, die jetzt von Putins Truppen zerstört werden. Das heutige „wir“ basiert auf etwas Negativem – auf Bombenangriffen und Zerstörung. Und auf der Vergangenheit – wobei das nicht einmal die 1960er Jahre sind, nicht Chruschtschow, sondern Stalin – auf Härte und der Rechtfertigung von Repressionen.

Wie soll das enden angesichts einer fehlenden positiven Zielsetzung, eines messbaren Ziels, das es auch bei Putin, nebenbei bemerkt, irgendwann gab? [Es hieß,] wir bauen einen Kapitalismus auf, damit es ein bequemes Leben wird. Wir bauen ein großartiges Russland. Wir haben die Krim angegliedert, ohne dass ein einziger Schuss gefallen ist, was ein großes Plus war. Da sind wir nun, die ganz Großen. Und nun?

Diese furchtbare „Spezialoperation“ geht in eine Phase, die kein erkennbares Ziel hat. Jeder normale Bürger, egal welchen Alters, versteht, dass das die Ukraine ist. Die Krim, na gut, das ist ja noch schwammig. Aber Cherson und Saporishshja – was ist das, warum soll das zu uns gehören? All das bringt die Bevölkerung durcheinander. Sie unterstützt Putin weiterhin roboterhaft. Durch die Teilmobilmachung wurde sie aber verstört: Zwar hat sich der Zuspruch nicht maßgeblich verringert, aber im Inneren dieses Zuspruchs gibt es Verschiebungen, die stumme Unzufriedenheit staut sich auf. Irgendwo in den Tiefen der Masse – wenn man sich die Umfragen anguckt – nimmt die Zahl derjenigen allmählich ab, die die Spezialoperation eindeutig unterstützen. Es sind nicht mehr 50, sondern 44 Prozent. Das sind ernstzunehmende Verschiebungen. Die Ressourcen gehen zur Neige, aber wie schnell, wissen wir nicht. Ich meine sowohl die menschlichen Ressourcen als auch die wirtschaftlichen und die psychologischen Ressourcen der Nation. Das Regime könnte auch über das Jahr 2024 noch fortbestehen und Putin der nächste Präsident werden. Aber er muss bis zu den Wahlen etwas präsentieren.

Yurchak: Putins Auslegung dessen, was Russki Mir sein soll, hat sich als Irrtum erwiesen. Das Problem ist nicht, dass die Armee schwach ist und alles gestohlen wurde, sondern dass es in der Ukraine keinen Rückhalt dafür gibt. Die „russische Welt“ ist offensichtlich überhaupt nicht an Russland interessiert. Dass die Menschen in Cherson ihre Jungs der ukrainischen Streitkräfte mit Blumen und Flaggen begrüßen, bestätigt das noch einmal. Putins Konzept des Russki Mir steckt in einer tiefen Krise, und ich glaube, das ist das wichtigste Ergebnis der „Spezialoperation“.

Es fängt das schreckliche Gerede an, auf unserer Seite stünde Gott und auf der anderen – Satan, Iblis und Luzifer. Ich glaube, sobald sich eine Gesellschaft gewissermaßen modernisiert hat, eine Konsumgesellschaft im westlichen Sinn geworden ist, sind die Menschen nicht mehr bereit, in den Tod zu ziehen.

Yurchak: Wann sich etwas ändert, kann ich nicht sagen, ich hoffe, bald. Aber wenn es einmal anfängt, wird es schnell gehen. Hier würde ich eine Parallele zur späten Sowjetunion ziehen, zur Spätphase der Perestroika, als klar wurde, dass das System zusammenbricht, als seine Grundfesten 1990 in Frage standen. Die Massen wurden von dem Gefühl ergriffen, dass es kein Zurück gibt, und von einem starken Wunsch, ein Teil davon zu sein. Das war wahrscheinlich die größte Überraschung der Endphase der Sowjetunion. Ich glaube, es wird so ähnlich sein. mehr Informationen

Moskau verändert nach Gerüchten die militärische Führungsstruktur. Nicht mehr Putin soll die militärischen Ziele definieren, sondern ein Gremium von Experten. Das bedeutet, dass ab dem Frühling eine neue Art von Krieg sichtbar werden wird. Das kann deeskalieren oder den Krieg befördern.

Russische Beamte könnten einem ukrainischen Geheimdienstbericht zufolge versuchen, die Söldnergruppe „Wagner“ zu schwächen, indem sie parallel eine neue militärische Struktur aufbauen. Dies berichte der ukrainische Militärnachrichtendienst HUR, wie der US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW) auf seiner Homepage schreibt.

Estlands Verteidigungsminister Hanno Pevkur sieht Russland nach neun Monaten Krieg in der Ukraine nicht entscheidend geschwächt. Er erwarte zudem, dass Russland aus dem Kriegsverlauf lernen werde. „Das bedeutet, sie werden in den kommenden Jahren mehr in die Fähigkeiten investieren, die aus ihrer Perspektive in der Ukraine erfolgreich waren.“

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