Jahrhundert der Türkei

Im Jahr 2023 wird die Türkei ihr hundertjähriges Bestehen feiern. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat angesichts dieses historischen Tages eine würdigende Vision ins Auge gefasst: Mit dem 100. Tag der Republik ruft der Staatschef die Bevölkerung dazu auf, gemeinsam das „Jahrhundert der Türkiye“ einzuläuten. Das sagte Erdogan in seiner Ansprache nach der Kabinettssitzung am späten 24. Oktober 2022. Darüber berichtet die Tageszeitung Hürriyet Daily News.

Weil Erdoğan sah, dass die früher vermarkteten Illusionen politisch Früchte trugen, unternahm er jetzt, acht Monate vor den Wahlen im Jahr 2023, einen neuen Vorstoß. Er verkündete seine Vision: das „Jahrhundert der Türkei“.

2013 versprach Erdoğan: Die Türkei soll einen Platz unter den zehn weltgrößten Wirtschaften erringen, heute gehören sie nicht mal zu den Top Twenty. Die jährliche Inflationsrate sollte auf eine einstellige Zahl sinken, heute liegt sie über 80 Prozent. Das Exportvolumen sollte auf 500 Milliarden steigen, heute beträgt es 140 Milliarden. Das Pro-Kopf-Einkommen sollte auf 25. 000 Dollar steigen. Als er das versprach, lag es bei 12. 000 Dollar, heute bei 8000. Die Arbeitslosenquote, die er auf fünf Prozent senken wollte, beträgt offiziellen Angaben zufolge über zehn Prozent. Tatsächlich ist eine von vier Personen arbeitslos.

Offenbar glaubt Erdogan, jeder hätte ebensolches Glück wie er. Außer ihm aber kann niemand im Luxus eines 1000-Zimmer-Palastes leben und täglich eine Million Euro ausgeben. Vielmehr schränken die Menschen ihre Grundbedürfnisse ein. Um das Schulgeld für die Kinder aufzubringen, sparen 81 Prozent der Eltern an Ausgaben für Essengehen, Kleidung und Freizeitaktivitäten. Manche sparen am Strom, andere kaufen weniger für die Küche ein.

Erdoğan, der alle, die ihn nicht wählen, Intellektuelle, von Journalisten wie Can Dündar bis hin zu unserem Nobelpreisträger, dem Schriftsteller Orhan Pamuk, ja, selbst Bürger, die sich Devisen besorgen, als Terroristen bezeichnet, will anstelle der Hasspolitik nun eine Politik der Zuneigung einsetzen. Ein Staatschef, der Menschen, die gegen ihn demonstriert haben, Plünderer und Schlampen nannte, plädiert heute für „Einheit und Zusammenleben“.

„Wir haben uns an die Seite der wegen ihres Glaubens ausgegrenzten Muslime gestellt, der wegen ihrer Sprache diskriminierten Kurden, der wegen ihrer Lebensart unterdrückten Aleviten, der christlichen und jüdischen Kinder dieses Landes, die Unrecht erlitten, haben ihren Kampf unterstützt, ihre Verluste ausgeglichen. Dieses Land ist unser aller Land, unser aller Vaterland“, sagt Erdoğan weiter.

Speziell in seiner Ära haben wir nicht viel von Muslimen gehört, die wegen ihres Glaubens ausgegrenzt worden wären. In dem Hassklima aber, das Erdoğan schuf, wurde der deutsche Theologe Tilmann Geske ermordet. Mit einem Budget von rund zwei Milliarden Euro dient die staatliche Religionsbehörde Diyanet ausschließlich dem sunnitischen Islam. Das Alevitentum ist nicht einmal als Glaube anerkannt, es untersteht dem Kulturministerium, als wäre es eine Kunstrichtung. Und die Kurden, die in „unser aller Land“ leben, werden meist mit der PKK gleichgesetzt, die mehrheitlich von ihnen gewählte Partei HDP wird als terroristisch hingestellt.

Nächstes Zitat: „Selbstverständlich hat jedes Individuum in unserem Land das Recht, meine Person und meine Politik nicht wertzuschätzen und sich anders zu orientieren. Wir wollen nur, dass die Tatsachen eingeräumt werden.“

Mussten sich in den letzten acht Jahren nicht 200.000 Menschen wegen Beleidigung Erdoğans vor Gericht verantworten? Waren nicht 305 von ihnen noch minderjährig? Wurde nicht, während Erdoğan diese Rede hielt, der Journalist Ümit Zileli wegen Präsidentenbeleidigung festgenommen? Und wurden nicht in denselben Tagen neun kurdische Journalisten verhaftet, weil sie etwas geschrieben hatten, das Erdoğan nicht passte?

„Das Jahrhundert der Türkei ist das Jahrhundert der Jugend. Wir werden unsere jungen Menschen weiter als ehrgeizige, fleißige, gut ausgestattete Individuen mit weitem Horizont, die wissen, was sie wollen, auf die Zukunft vorbereiten.“

Gerade erst wurde eine Statistik veröffentlicht, die belegt, dass auch Gymnasiasten ihre Zukunft im Ausland sehen. Hundert von 171 Abiturienten des Istanbuler Gymnasiums, an dem der Unterricht auf Deutsch stattfindet, und 103 von 113 Absolventen der Deutschen Schule Istanbul studieren lieber in einem Land, in dem man für einen kritischen Tweet nicht für drei Jahre ins Gefängnis muss.

Aus: Wir stehen an der Schwelle zur Diktatur von Bülent Mumay FAZ.

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