Mitten in Deutschland leben Hunderte Minderjährige in Kinderehen – oft weil sie von ihren Eltern dazu gezwungen werden und die Behörden überfordert sind.
„Wir gehen davon aus, dass in Deutschland jede Woche eine Minderjährigen-Ehe geschlossen wird“, sagt Monika von der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes.
Eigentlich gibt es seit 2017 ein Gesetz, das junge Mädchen und Frauen gerade davor schützen soll, gegen ihren Willen in arrangierte Ehen gezwungen zu werden. Das „Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen“ legt das Mindestalter zur Heirat ohne Ausnahme auf 18 Jahre fest. Außerdem sieht es vor, dass Ehen, die zum Beispiel im Ausland geschlossen wurden, von einem Richter aufgehoben werden, wenn die minderjährigen Partner bei der Hochzeit 16 oder 17 Jahre alt waren. Eheschließungen unter 16 Jahren sind sogar generell unwirksam.
„Diese Regelungen sind in der Praxis noch gar nicht angekommen. Viele Behörden wissen überhaupt nicht, wie das Gesetz umzusetzen ist“.
Seit Inkrafttreten des neuen Gesetzes 2017 wurden deutschlandweit 813 Ehen mit Minderjährigen gemeldet. Es gab lediglich ca. 104 Verfahren und in nur 11 Fällen wurde die Ehe antragsgemäß aufgehoben.
Terre des Femmes geht indes davon aus, dass in Deutschland in Wirklichkeit noch wesentlich mehr Minderjährige verheiratet werden oder in Kinderehen leben, als bislang bekannt. Dass ein Mädchen minderjährig ist, komme so manchmal erst ans Licht, wenn zum Beispiel die Geburt des Kindes im Standesamt registriert wird.
„Oft heiraten die Mädchen, weil es für sie und ihre Familie der einzige Ausweg aus der Armut ist. Die Eltern sagen ihren Töchtern dann: Wir können dich nicht mehr ernähren, es wäre das Beste für dich, wenn du jetzt heiratest“, berichtet Michell.
„93 Prozent der Betroffenen sind Mädchen, 98 Prozent haben einen Migrationshintergrund“
Sie würden entweder unter Androhung von körperlicher Gewalt oder sogar Mord in die arrangierte Ehe gedrängt oder subtil hineingezwungen. „Die Mädchen wissen nämlich, dass ihre jüngeren Schwestern dran glauben und den auserkorenen Ehemann heiraten müssen, wenn sie selbst fliehen“, so Michell.
Viele Mädchen litten unter Gewalt durch ihre erwachsenen Ehemänner. Am häufigsten betroffen seien in Deutschland bisher junge Mädchen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, aber auch aus der Türkei und sogar Bulgarien.
„Die Mädchen wissen, was ihnen als ehrenlosen Frauen droht. Es kann sehr gefährlich für sie werden.“ Denn anstatt sich aus dem Arrangement zu befreien, bestätigen die allermeisten Betroffenen ihre Ehen, wenn sie 18 Jahre alt sind. Die Behörden sind dann machtlos.
Diese Schwachstelle im neuen Gesetz führt dazu, dass Behörden sogar oft überhaupt kein Verfahren mehr einleiten, wenn eine Betroffene zum Beispiel schon 17 Jahre und 8 Monate alt ist und ankündigt, die Ehe bestätigen zu wollen. Die Ehe-Aufhebung werde dann häufig einfach ausgesessen. mehr Informationen
In der Schweiz sollen sich Kinder oder Jugendliche, die im Ausland verheiratet wurden, dagegen wehren können. Neu soll das nicht nur bis zum 18., sondern bis zum 25. Lebensjahr möglich sein. Dieser Vorschlag des Bundesrats stösst grundsätzlich auf Zustimmung. Dass er aber kein generelles Verbot von Minderjährigen-Ehen vorsieht, wird als stossend empfunden.Der Bundesrat hält in seinem Entwurf fest, dass Ehen mit Minderjährigen grundsätzlich für ungültig erklärt werden sollen. Allerdings sieht er Ausnahmen vor. So soll eine Ehe mit Minderjährigen etwa dann gültig bleiben, wenn die Ehe «den überwiegenden Interessen» der minderjährigen Person entspreche. Auch wenn die betroffene Person sagt, dass sie diese Ehe wolle, soll die Minderjährigenehe anerkannt werden können. Betroffene sind aber oft familiärem und sozialem Druck ausgesetzt, womit die Interessensabwägung quasi leerlaufe. In der Schweiz ist die Eheschliessung für minderjährige Personen seit 2013 illegal. Es kommt aber vor, dass Kinder im Ausland verheiratet wurden und noch minderjährig, aber bereits verheiratet in die Schweiz kommen. Oder sie werden verheiratet, wenn sie in den Sommerferien in ihr Herkunftsland zurückkehren. Zudem ist in einigen Ländern die Heirat bereits ab 16 Jahren möglich. Die Fachstelle Zwangsarbeit hat gemäss eigenen Angaben im Jahr 2016 insgesamt 112 betroffene Minderjährige beraten. Im Jahr 2020 waren es bereits deren 133. Wird eine solche Ehe aufgedeckt, müssen die Behörden gegen diese von Amtes wegen Klage einreichen. Auch die Betroffenen können dies tun. Sobald diese aber 18 Jahre alt sind, gilt ihre Ehe heute automatisch als «geheilt», also als rechtlich gültig.