Einem Bericht des französischen Magazins L’Incorrect zufolge protestierten am Vortag des „Welt-Hidschab-Tages 50 Frauen aus ganz Frankreich gegen den Gedenktag, der seit 2013 in 140 Staaten am 1. Februar begangen wird. Sie prangerten den „Welt-Hidschab-Tag“ an, den Tag der internationalen Solidarität mit den verschleierten Frauen, die „vermeintlich Opfer der Unterdrückung im Westen“ seien.
Alice, die Vorsitzende der Vereinigung, erklärt: „Der Sinn unserer Aktion heute besteht darin, den #WorldHijabDay anzuprangern. Wir möchten lieber jene Frauen würdigen, die versuchen, insbesondere in den Ländern des Maghreb und des Nahen Ostens ihren Schleier auszuziehen.
Die ganze Aktion habe nur drei Minuten gedauert. Dennoch seien zwei Polizeiwagen und zwei Vigipirate-Patrouillen – Soldaten, die Frankreich vor Terrorismus schützen sollen – vor Ort eingetroffen. mehr Informationen
Nazma Khan ist überzeugt: Der Hidschab schützt, stärkt, schafft Identität. Der Hidschab verhüllt die Frau und verleiht ihr auf diese Weise Würde und Freiheit. Die Kopfbedeckung, so die US-Amerikanerin mit pakistanischen Wurzeln, leiste viel für Frauen. Darum sei es an der Zeit, den Hidschab zu würdigen.
Sie sie glücklich über den Welt-Hidschab-Tag, sagt die aus Tunesien stammende, in Deutschland lebende Ärztin Karima Al-Makeni im Gespräch mit der DW. Sie habe ihn bereits in Tunesien getragen. „Der Hidschab ist ein Kleidungsstück, das für die Freiheit der Frauen steht – und nicht gegen sie. Er ist in keinerlei Hinsicht ein Hindernis. Ich kann alles tun, was auch nicht-verhüllte Frauen tun. Ich kann Sport treiben, schwimmen und ein ganz normales Leben führen.“ Allerdings, räumt sie ein: „In dem Moment, in dem sich eine Frau gezwungen fühlt, ihn zu tragen, wird er für sie zu einer Last.“
Nicht alle sehen die muslimische Kopfbedeckung so positiv. Er stehe für die Unterdrückung der Frau, ihre Entrechtung und Degradierung als Mensch, sagen Kritiker. „Für konservative Kräfte beruht die Identität der arabischen Region auf der Religion“, schreibt die aus Tunesien stammende, in Paris lebenden Publizistin Sophie Bessis in ihrem Buch „Les arabes, les femmes, la liberté“.
Umgekehrt fühlen sich viele Kopftuch tragende Frauen in westlichen Ländern diskriminiert. Am Mittwoch beschloss das Bundesarbeitsgericht in Erfurt, die Klage einer Drogeriemarkt-Kassiererin dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorzulegen. Die Muslima hatten ihren Arbeitgeber verklagt, weil er das Tragen religiöser Kopfbedeckungen und Zeichen generell untersagt hatte. Nun muss der EuGH klären, ob oder inwieweit Arbeitgeber in die Religionsfreiheit ihrer Mitarbeiter eingreifen dürfen.
In den sozialen Medien geht der Streit um die Deutungshoheit derweil weiter. Scharfen Widerspruch erntet der World Hijab Day unter den Hashtags #NoHijabDay und #FreeFromHijab. Eine der prominentesten Kritikerinnen ist Ensaf Haidar, die Ehefrau des in Saudi-Arabien wegen Kritik des religiösen Establishment zu zehn Jahren Haft und 1000 Stockschlägen verurteilten Bloggers Raif Badawi.
Zu den vehementen Gegnerinnen des Welt-Hidschab-Tages zählt auch Mina Ahadi, Vorsitzende des Rates der Ex-Muslime. Der Tag verharmlose die Verschleierung, sagt sie im Gespräch mit der DW. Natürliche gebe es in den USA oder in europäischen Ländern Frauen, die aus freien Stücken einen Hidschab trügen. „Ich frage diese Frauen aber, ob es nicht besser ist, einen Tag gegen den Zwang zum Kopftuch auszurufen. Denn es gibt Millionen Frauen etwa im Iran, im Sudan, in Afghanistan oder in Saudi Arabien, die von der eigenen Familie, von islamischen Regierungen oder islamischen Terrororganisationen dazu gezwungen werden, ein Kopftuch zu tragen.“ mehr Informationen
Seit 2010 ist in Frankreich die Vollverschleierung im öffentlichen Raum verboten. Die Soziologin Agnès de Féo hat für eine Langzeitstudie 200 Musliminnen befragt, warum sie trotzdem Gesichtsschleier tragen. Eines ihrer Ergebnisse: Wichtiger als Frömmigkeit ist der Protest gegen Familie und Gesellschaft.
Die französische Soziologin Agnes de Féo hat ein vielbeachtetes Sachbuch über vollverschleierte Musliminnen in Frankreich geschrieben. Der Titel ist: „Derrière le Niqab“, „Hinter dem Niqab“.
„Mein Buch zerstört die imaginären Konstrukte von der ferngesteuerten Burkaträgerin.“ Viele Niqabträgerinnen gefiele, dass sie andere sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Darüber hinaus gebe die Vollverschleierung ihnen auch das Gefühl moralischer Überlegenheit.
Sie hat herausgefunden, dass es sich bei den Niqabträgerinnen in Frankreich um westliche Frauen ihrer Zeit handelt. „Diese Frauen haben einen feministischen Diskurs. Sie sind überwiegend Singles, oft alleinerziehend, stehen absolut nicht unter der Fuchtel irgendwelcher Männer. „
Die Soziologin stellt fest, dass die Frauen fast ausnahmslos in Frankreich geboren sind. Dass sie aus assimilierten Migrantenfamilien kommen, die ihren muslimischen Glauben kaum oder gar nicht praktizieren. Überproportional vertreten sind außerdem zum Islam konvertiere Französinnen. Auch sie stammen aus areligiösen oder sogar religionsfeindlichen Elternhäusern.
Der Vollschleier sei jedoch nicht gleichbedeutend mit tiefer Religiosität. „Die durchschnittliche Muslimin mit einfachem Kopftuch ist religiöser und frommer als die Niqabträgerinnen.“
Die meisten Frauen ihrer Studie haben sich reflexartig für die Vollverschleierung entschieden: Auslöser war für sie gerade die Diskussion von 2009 und das anschließende Verbot im öffentlichen Raum. Sich trotzdem für die Vollverschleierung zu entscheiden, wirkt wie ein spontaner Protest. „Sie haben den Niqab getragen, bevor sie ein Minimum an religiösem Basiswissen hatten“, sagt Agnes de Féo.
Die Anziehungskraft, die der Vollschleier auf diese Frauen ausübt, erklärt die Agnès de Féo mit einer Reihe von Gründen. Rebellion gegen die Familie, gegen die Gesellschaft und natürlich gegen das Niqabverbot, das sie als entmündigend kritisieren. Auch ein ausgeprägtes bis narzisstisches Bedürfnis nach Selbstbestätigung und öffentlicher Aufmerksamkeit sei für Niqabträgerinnen charakteristisch. Sie inszenieren sich. „Auffällig viele der Frauen hatten vorher davon geträumt, in der Kosmetik- oder Modebranche Karriere zu machen.“
‚Ich bin kein Stück Fleisch, das man konsumiert‘. Sie identifizieren sich mit der Me-too-Bewegung und mit Feministinnen. Sie sagen auch: Mein Körper gehört mir, damit mache ich was ich will.
Die Soziologin trifft auf Frauen, die den Niqab gezielt nutzen, um Männer radikal aus ihrem Leben zu verbannen. Aber die Mehrheit der Niqabträgerinnen setze auf den strengen Gesichtsschleier, um ihr Glück mit einem gottesfürchtigen muslimischen Märchenprinzen zu finden. Sie schreiben sich mit dem Niqab als Aushängeschild auf spezialisierten Websites wie Muslima.com ein. Dort finden sie nicht nur leichter das gesuchte Profil – sie können auch digital das Ja-Wort für einen islamischen Ehevertrag geben.
„Wenn es ihnen gelingt, eine digitale Heirat zu machen, sind die Ehen extrem kurzlebig. Sie dauern manchmal nur wenige Tage, werden nach islamischem Recht genauso schnell wieder geschieden. Das liegt nicht an den Männern, sondern an den Frauen. Weil ihnen der Mann, wenn sie zusammenleben, doch nicht zusagt. Weil er sie kritisiert oder Vorschriften wegen ihres Niqab machen wollte.“
Heute, mehr als 10 Jahre nach dem Verbot, erscheint die Vollverschleierung fast schon wie ein historisches Phänomen. Ein Teil der Frauen hat sich in die eigenen vier Wände zurückgezogen, andere gehen tragen nun anstatt des verbotenen Gesichtsschleier die wegen der Pandemie gebotenen medizinischen Masken. Wieder andere haben den Niqab ganz abgelegt, weil sie den permanenten Anfeindungen nicht mehr gewachsen waren. Rückmeldungen hat Agnès de Féo auch von Frauen, die den Niqab samt Islam für sich abgehakt haben. – Sie bezeichnen die Vollverschleierung als Sackgasse oder als Zwischenepisode ihres Lebens, aus der sie herausgewachsen sind.
Nur eine verschwindend kleine Minderheit (2) der französischen Niqabträgerinnen sei in die radikale Islamismus-Szene abgerutscht. Beide Frauen gehören zu der Gruppe der Frauen, die sich erst nach dem französischen Anti-Burka-Gesetz für den Niqab entschieden haben.
„Das Gesetz hatte ganz eindeutig einen verstärkenden Effekt auf das Niqab-Phänomen und auf die Radikalisierung von Frauen. Schon Philosoph Montesquieu hat gesagt: ,Man ändert Sitten nicht mit Verboten oder per Gesetz, man ändert sie durch andere Sitten.‘“ mehr Informationen
Am 7. März 2021 kommt in der Schweiz die Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» zur Abstimmung. Sie fordert, dass schweizweit niemand sein Gesicht in der Öffentlichkeit verhüllen darf. Zum öffentlichen Raum zählen zum Beispiel Strassen, der öffentliche Verkehr, Amtsstellen, Restaurants, Läden, Fussballstadien oder die freie Natur. Ausgenommen sind nur Gotteshäuser und Sakralstätten. Was unter der «Verhüllung des eigenen Gesichts» verstanden wird, definiert die Initiative nicht.
Eine Untersuchung der Universität Luzern zeigt, dass schweizweit zirka 20 bis 30 Frauen einen Nikab tragen. Dabei handelt es sich um einen Gesichtsschleier, der nur die Augenpartie ausspart. Die Burka, die den ganzen Körper von Kopf bis Fuss inklusive Augenpartie bedeckt, kommt noch seltener vor. Die meisten Trägerinnen sind Touristinnen.
Dem Bundesrat ist klar, dass das Gesicht sichtbar sein muss, um eine Person zweifelsfrei zu identifizieren. Mit dem Gegenvorschlag schliesst er die Lücke im Bundesrecht und legt fest: Personen in der Schweiz sind verpflichtet, ihr Gesicht gegenüber allen Behörden zu zeigen, wenn es um eine Identifizierung geht. Dies gilt zum Beispiel auf Amtsstellen oder im öffentlichen Verkehr. Wer sich weigert, zahlt eine Busse oder muss auf die Leistung verzichten. Wenn das Verhüllungsverbot abgelehnt wird, tritt der Gegenvorschlag automatisch in Kraft, falls kein Referendum ergriffen wird.
Update 8.3.21
Die Stimmbevölkerung der Schweiz hat das Verbot, das vor allem auf muslimische Nikab- und Burka-Trägerinnen abzielt, mit 51,21 Prozent Ja-Anteil angenommen. Die Stimmbeteiligung lag bei 51,4 Prozent. (Also rund 25 % waren gegen die Verschleierung). Damit schliesst sich die Schweiz den Ländern Frankreich, Österreich, Bulgarien, Belgien und Dänemark an, in denen eine Vollverschleierung verboten ist.