In Deutschland und in Österreich weiß jeder halbwegs gebildete Halbwüchsige, dass das Tragen von nationalsozialistischen Insignien strafrechtliche Folgen nach sich ziehen kann. In Russland ist die Welt eine verkehrte: Wenn Busse mit dem Abbild Josip Stalins durch die Metropolen Moskau oder Petersburg fahren, bleibt der Aufschrei des Entsetzens aus – vielmehr wird diese Propaganda als vollkommen natürlich wahrgenommen: Stalin, einer der grausamsten Diktatoren der Weltgeschichte, hat dort Heldenstatus. Und das wird anlässlich seines 60. Todestages gefeiert.
Die Bevölkerung will es, der Staatsapparat gibt diesem Wunsch nach – oder umgekehrt, je nachdem, wie man es sieht: Das Umfrageinstitut Lewada hat ermittelt, dass etwa 48 Prozent der Russen Stalins Rolle in der Geschichte als positiv wahrnehmen – nur 22 Prozent meinen, er hätte wohl schlechten Einfluss auf den Lauf der Dinge genommen.
„Das Volk kümmert sich nicht um Freiheit und Demokratie (…), willigt gleichmütig in alles ein, stimmt einhellig ab. Und hasst wieder Amerika„, schreibt der Publizist Nikolaj Swanidse im Moskowskij Komsomolec.
Stalin werde dabei wie eine Ikone hochgehalten: „Er ist schon nicht mehr der blutrünstige Diktator, sondern fast Jesus Christus“, meint Swanidse. Unreflektierte Darstellungen in Schulbüchern, die Stalins vor allem als „Manager in Krisenzeiten“ zeichnen, würden ihn auch bei den Jungen wieder populär machen.
Aktionen von regierungskritischen Blättern, die auf die eigentliche Rolle Stalins hinweisen, bleiben zumeist unbeachtet. Wie viele Menschen während seiner dreißigjährigen Herrschaft starben, ist bis heute Gegenstand wissenschaftlicher Debatten. In den Sowjetarchiven finden sich folgende Zahlen: 799.455 Exekutionen wurden dort zwischen 1921 und 1953 registriert, 1,7 Millionen Tote in Gulags gezählt. Forscher schätzen die Zahl der Todesopfer aber weitaus höher ein: Bis zu 60 Millionen Menschen könnten während Stalins Regime ihr Leben gelassen haben.