Im Konflikt um den Jerusalemer Tempelberg mischt in letzter Zeit auf muslimischer Seite ein neuer Akteur mit. Es ist die Türkei, deren Regierung die Verteidigung der dortigen Moscheen vor dem Griff des, wie Präsident Erdogan ihn derzeit nennt, israelischen „Terror- und Besatzungsstaats“ zur Chefsache erhoben hat. So finden auf dem Berg immer häufiger türkische Pilger und palästinensische Erdogan-Verehrer zu lauten Demonstrationen zusammen, bei denen türkische Nationalfahnen geschwungen und Erdogan-Poster hochgehalten werden. Manche von ihnen tragen ostentativ den Fez, die in osmanischer Zeit übliche Kopfbedeckung.
Als israelische Polizisten einigen belgisch-türkischen Aktivisten, die als türkische Flagge aufgemachte rote T-Shirts trugen, den Zutritt zum Moscheenareal verweigerten, wurden die Türken handgreiflich. Sie wurden daraufhin verhaftet und kurze Zeit später des Landes verwiesen.
Demonstrative Auftritte von Türken auf dem Tempelberg sind indes schon etwas älter als die jüngste Jerusalem-Erklärung des amerikanischen Präsidenten, gegen welche auch die erwähnten türkischen Pilger demonstrieren wollten.
Die inszenierten Besuche sind Teil einer schon länger anhaltenden wohldurchdachten Kampagne, der neoosmanisch Selbstinszenierung der Türkei als islamische Großmacht.
So lässt die Türkei seit etlichen Jahren über staatsnahe religiöse Stiftungen Moscheeanlagen in Israel, die – wie etwa in Jaffa – aus der osmanischen Ära stammen, aufwendig renovieren. Unter dem Mantel der Erhaltung des gemeinsamen islamisch-osmanischen Erbes bauten die türkischen Organisationen so ihre Kontakte zu israelisch-arabischen Islamisten aus den Reihen der „Islamischen Bewegung“ aus. Diese steht den Muslimbrüdern, als deren Beschützer Erdogan sich sieht, nahe und hat sich seit Jahrzehnten die Verteidigung der Tempelberg-Moscheen gegen die israelische „Gefahr“ auf die Fahnen geschrieben.
Immer zahlreicher werden eigene Demonstranten, darunter häufig vollverschleierte Frauen, die die jüdischen Besucher bei ihren Rundgängen auf dem Moscheenareal mit lautem Schreien bedrängten.
Der türkische Verein „Mirasimiz“ (Unser Erbe) begann eine eigene Zeitschrift mit dem Titel „Minber-i Aksa“ (Al-Aqsa-Kanzel) zu veröffentlichen, die seit 2016 monatlich erscheint. Sie mobilisierte von Anfang an nicht nur gegen die „Gefahr“ für Al-Aqsa, sondern betont auch das „osmanische Erbe in Jerusalem“.
Im Sommer 2015 informierte die Zeitschrift auch über den im Mai stattgefundenen Palästina-Besuch des damaligen Leiters des türkischen Präsidiums für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) Mehmet Görmez und seine flammende Predigt in der Al-Aqsa-Moschee. Er beschwor die Pflicht aller Muslime, besonders der Türken, die Palästinenser zu unterstützen, und nutzte den Anlass auch, um die Verdienste der osmanischen Sultane um Jerusalem zu würdigen: Diese hätten in der heiligen Stadt Mauern und Denkmäler errichtet und ihre sämtlichen Bewohner, wo immer nur möglich, unterstützt. In der Monatsschrift (Juli 2015) stellte er das Schicksal der Muslime Palästinas seit dem Abzug der Osmanen als eine einzige Verfolgungsgeschichte dar.
Ahmet Varol, vom äußersten rechten Rand der islamistischen Szene in der Türkei, bestritt in der Zeitschrift jegliches Recht der Juden auf den Tempelberg und spielte, wenn auch vorsichtig, auf die alte Legende an, dass die Juden beabsichtigten, die Moscheen auf dem Berg zu zerstören, um dort ihren Tempel zu errichten. Varol ist heute außer als Kommentator des radikalen, AKP-nahen Kampfblatts „Yeni Akit“ auch einer der Autoren der islamistischen Zeitschrift „Ribat“ – ein Begriff aus dem Vokabular des Dschihad.
Der Jerusalem-Besuch des Diyanet-Chefs Görmez markierte einen Wendepunkt im Verhältnis seiner Behörde zum Thema Jerusalem und Tempelberg. Seitdem bietet das Diyanet die Option, auf dem Weg nach Saudi-Arabien in Ostjerusalem Station zu machen, um in den Tempelberg-Moscheen zu beten. Schon dieses Novum schien den türkischen Besucherstrom deutlich anwachsen zu lassen. Waren es 2015 rund fünfundzwanzigtausend türkische Pilger, so schätzt man ihre Zahl heute auf jährlich mehr als vierzigtausend. Dass Erdogan die Türken im vergangenen Jahr ausdrücklich aufgefordert hat, nach Ostjerusalem zu pilgern, hat sich auf die Besucherzahl offensichtlich ausgewirkt: Nach israelischen Angaben stieg sie in den letzten Monaten des Jahres 2017 im Vergleich zum Vorjahr um mehr als vierzig Prozent.
Während die türkischen Pilger auf palästinensischer Seite mit offenen Armen empfangen werden, bereiten sie den Israelis zunehmend Sorge. Die israelische Presse hat das Thema inzwischen für sich entdeckt und schlägt Alarm. Türkische Besucher sind häufig auf Provokation aus. So hat manch einer schon beim Rundgang durch die Ostjerusalemer Altstadt im armenischen Viertel hängende Plakate abgerissen, die an den osmanischen Völkermord an den Armeniern erinnern. Die türkischen Pilger pflegen auch demonstrativ türkische Nationalfahnen in der Hand zu halten, mit denen sie sich gerne auf dem Tempelberg in Gruppenfotos verewigen lassen. mehr Informationen