Kaum eine andere Katastrophe hat sich so in das Gedächtnis eingebrannt wie die islamistischen Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington, die fast 3.000 Bürgern das Leben gekostet haben. Demnächst erscheint ein Buch der Frau, die als letzte Überlebende unter den Trümmern des Welthandelszentrums in New York gefunden wurde: Genelle Guzman-McMillan. Hier ein Auszug daraus.
Es war ein ziemlich typischer Dienstagmorgen. Ich fuhr mit dem Zug bis Broadway-Nassau, wo ich gegen 7.50 Uhr ausstieg. Die Station lag etwa einen Block entfernt vom Welthandelszentrum, einem Komplex aus sieben Gebäuden in Manhattan. Ich arbeitete in der Hafenbehörde der US-Bundesstaaten New York und New Jersey, im 63. Stock des 110-stöckigen Nordturms. Er war einer jener Riesenwolkenkratzer, bei denen einem schwindlig wird, wenn man davorsteht und gerade nach oben schaut.
Ein kleiner Plausch, diverse Telefonate, ein Brief, der geschrieben werden musste, Post sortieren, einen Bagel essen – alles kein Problem. Ich tippte gerade einen Brief für meinen Chef, als meine Finger in der Luft erstarrten. Von irgendwoher kam ein Geräusch. Es klang wie zerbrechendes Glas, wie ein Schlag, der etwas zerschmetterte. Ein grollendes Zittern, das durch den Fußboden, die Decke und die Wände ging, ein pulsierender Bass, der vom einen Ende des Raumes zum anderen ging. Ich hörte, wie mehrere Kollegen kurz schrien oder aufkeuchten; vielleicht waren es noch mehr, die aber in dem dumpfen Geräusch untergingen. Möbel und Menschen wurden durchgeschüttelt, dass es uns eine halbe Handbreit in die Luft hob. Es war, als ob eine gigantische Welle einmal quer durch das Gebäude rollte.
Der Turm schwankte, aber ich reagierte nicht
Doch das war erst der Anfang. In dem Augenblick, als das Zittern aufhörte, begann der ganze Büroturm von oben nach unten zu schwanken. Ein Abteilungsleiter kam zu uns und sagte, dass wir das Gebäude verlassen sollten. Er erklärte uns nicht groß, warum, aber sein Ton war ernst. Ich reagierte nicht. Das Schwanken war schon eine Viertelstunde her, und der Turm schien sich beruhigt zu haben. Warum in Panik verfallen? Der Gedanke, zusammen mit Tausenden anderen Menschen zig Stockwerke nach unten zu sausen, entweder in überfüllten Liften oder zu Fuß auf der Treppe, war sowieso nicht sehr einladend.
Warten auf die Polizei
Ich schaute mich um, was die anderen so machten. Fast jeder war am Telefonieren. Ein Kollege rief bei einem Polizeibeamten an, der uns Instruktionen gab. Wir sollten oben bleiben und warten, bis die Polizei bei uns ist. Die nächsten 20 Minuten verbrachten meine Kollegen und ich damit, einander Mut zu machen und zu versichern, dass schon alles gut werden würde. Plötzlich begann der Büroturm wieder zu schwanken. Das zweite Schwanken war genauso wie das erste: ein unangenehmes Hin- und Herschaukeln, wie der Start einer Fahrt mit einem Geisterschiff im Freizeitpark. Es war nicht so stark, als ob das Gebäude gleich umkippen oder zerbersten würde, aber doch stark genug, dass ich mich fragte, warum ich nicht gleich nach dem ersten Mal gegangen war.
Der lange Abstieg: Es regnete Steine
Aus dem Flur drang dicker Rauch in unsere Büros ein. Wir schoben uns durch den Rauch zu einem der Treppenhäuser. Wir hatten einen langen Abstieg vor uns – über die Hälfte der Gesamthöhe des Gebäudes. Wir rannten nicht, aber unser Tempo war ordentlich.
Im 41. Stock sahen wir zu unserer Überraschung mehrere New Yorker Feuerwehrmänner in voller Montur auf den Stufen sitzen. „Was machen Sie hier?“, fragte ein Kollege sie. „Etwas verschnaufen“, erwiderte einer, schwer keuchend. Der Schweiß troff ihm von der Stirn, in der einen Hand hielt er eine Wasserflasche.Wir gingen weiter nach unten, wurden schneller. Wir erreichten den 19. Stock … den 18. … den 14. … den 13. … den 12. Plötzlich merkte ich, wie ich das Gleichgewicht verlor. Alles zitterte und schwankte. Die Treppen über uns begannen zu bröckeln, die Wände neben uns brachen auf, als ob ein Sattelschlepper in sie gekracht wäre. Der Boden unter uns riss wie ein morsches Brett. Ich duckte mich, die Arme über den Kopf gelegt, während ein Regen aus Betonbrocken über mich niederging, als ob ein wütender Mob mich steinigte. Dichte Staubwolken wirbelten hoch, bissen mir in die Augen und nahmen mir fast die Luft. Unvorstellbare Mengen Beton, Stahl und Glas trommelten auf jeden Quadratzentimeter meines Körpers. Ich lag zusammengekauert, den Kopf in den Armen, die Augen zugepresst, die Zähne zusammengebissen, den Atem angehalten, während um mich herum die Trümmer regneten.
Meine einzige Chance: Gebet unter Trümmern
Ich wartete, bis es still war und schlug die Augen auf. Nur schwarze Dunkelheit und Totenstille. Mein Kopf lag eingeklemmt zwischen, wie es sich anfühlte, massiven Betonblöcken. Durch meine Beine schossen heftige Schmerzen wie Stiche. „Hiiilfee!“ Meine Stimme trug nirgends hin und machte das nicht lange mit. Ein trockener Husten begann mich zu schütteln; meine Lunge und mein Mund waren wahrscheinlich voller Staub. Ich atmete langsam, aber tief durch die Nase ein. Ich war körperlich und seelisch am Ende.
Ich musste plötzlich an den Glauben denken, den ich hatte oder vielmehr nicht hatte. Ich war katholisch aufgewachsen und die ersten 28 Jahre meines Lebens brav zur Kirche gegangen. Seit ich in New York war, ging ich in keine Kirche mehr. Ich hatte mir nie vorstellen können, dass mein Schicksal nicht in meiner Hand war. Aber es war nicht in meiner Hand. Ich brauchte Hilfe. Gottes Hilfe. Es gibt viele Menschen, die in ihrer größten Not Gott um Hilfe anflehten, aber den Eindruck bekamen, dass er sie nicht hörte. Aber dieses Anflehen war meine einzige Chance. Ich musste es versuchen! Ich beschloss, einige Gebete zu sagen, die ich als Kind jeden Sonntag in der Kirche gesagt hatte – sozusagen als Bußsakrament, wenn man so will. „Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe …“ Ich sprach das Vaterunser wohl fünf oder sechs Mal. Ich rief weiter zu Gott. „Bitte hilf mir, nicht aufzugeben! Hilf mir hier raus!“
Die Hand eines Menschen
Ich merkte, dass ich etwas Schlaf brauchte. Das wollte ich nicht, aber ich war so müde … Ich hörte so etwas wie Sirenen, ein komisches, piepsendes Geräusch und … Fing ich jetzt auch noch an zu halluzinieren? Mein Herz hämmerte. Das waren wirklich Sirenen, wie von der Feuerwehr. Und das Piepsen war das typische Geräusch eines Baufahrzeugs im Rückwärtsgang. Ich hörte es, ich hörte es wirklich!
„Oh Gott, bitte gib, dass es wahr ist!“, schrie ich laut – oder jedenfalls so laut, wie meine ausgetrocknete Kehle es erlaubte. Wahrscheinlich war es nicht viel mehr als ein Wimmern. Ich fuchtelte mit der Hand, winkte, streckte sie, so hoch ich konnte. Und dann spürte ich es – die warme Haut eines anderen Menschen! Er drückte seinen Handteller fest gegen meinen und schlang seine Finger um meine Hand. Ich keuchte, für den Augenblick atemlos vor Ergriffenheit. Spürte ich das wirklich? Ja!Und all meine Stunden des Fragens, Betens, Rufens, Schreiens, Bittens, Bettelns und Versprechens, sie endeten mit dem unglaublichsten Gefühl und den schönsten Worten, die ich je gehört hatte. „Ich hab dich, Genelle.“ Die männliche Stimme strahlte Ruhe und Zuversicht aus. „Ich heiße Paul. Bald holen sie dich raus. Es wird alles gut.“ Es war Mittwoch, der 12. September, vielleicht um 9.15 Uhr, fast 23 Stunden nach dem Einsturz des Turms.
Wie es weiterging …
Es dauerte etwa vier Stunden, bis das Rettungskommando Genelle Guzman-McMillan mit der Hilfe von Kreissägen, Presslufthämmern und Schneidbrennern aus den Trümmern befreien konnte. Genelle hatte am oberen Ende eines sieben bis zehn Meter hohen Schutthügels gelegen. Sie wurde in ein Krankenhaus gebracht, aus dem sie nach 48 Tagen und mehreren Operationen entlassen werden konnte. Am zweiten Tag nach ihrer Entlassung aus der Klinik rief Genelle bei der unabhängigen evangelischen Brooklyn Tabernacle-Gemeinde an und erklärte, dass sie sich taufen lassen wolle. Am Tag darauf nahm sie bereits am Taufunterricht teil und Genelle begann, jeden Tag in der Bibel zu lesen. Am Morgen des 7. November 2001 heiratete sie ihren Lebensgefährten Roger. Am Abend desselben Tages ließ sie sich taufen.
Guzman-McMillan, Genelle und William Croyle: „Engel gibt’s wirklich. ‚Ich war 27 Stunden verschüttet‘ Eine wahre Geschichte.“, 192 Seiten, Brunnen Verlag, 14,99 Euro, ISBN 978-3-7655-1221-6
Quelle: http://www.idealisten.net/beitrag/article/11-september-ich-war-27-stunden-verschuettet.html