Wer Israel verstehen will, folgt der Menora von unten über den „Aufbau des Landes“ dem Hauptstamm entlang über das einende Bekenntnis „Schma Israel“ (Höre Israel) und den „Warschauer Ghettoaufstand“ zur Vision von Hesekiel von der „Wiederherstellung der Totengebeine“, der „weinenden Rachel und tröstenden Ruth“ bis hin zur „Thora“, die „Mose“ dem Volk Israel gegeben hat.
„Mose“ ist die zentrale Figur im Judentum. Mose hat die Thora aufgeschrieben und stand vor Gott für das Volk Israel ein (2.Mose 32,11-12; 31-33). Zuoberst in der Mitte wird dies dargestellt durch die Figur des Mose, der seine Hände betend zu Gott und dem ersten Bundeszeichen (Regenbogen) erhebt. Er wird unterstützt durch Aaron und Hur, während Amalek ohne erkennbaren Grund das Volk zu vernichten versucht (2.Mose 17,8-13). Amalek steht als Sinnbild für alle Judenvernichter. Sobald Mose seine fürbittenden Hände sinken ließ, gewann Amalek die Oberhand. Deshalb unterstützen Aaron und Hur Mose. Nur unter größter Anstrengung gelingt Israel den Sieg. (Vergleiche Artikel: Ein Prophet wie Mose)
Unter dem Relief von Mose sind die „zwei Gesetzestafeln“ inmitten von Feuerflammen abgebildet. Sie sind ein Sinnbild für die Thora, die Charta Israels. Jüdisches Geistesleben hat sich durch die Jahrhunderte vor allem in der Auslegung der Thora entfaltet (Talmud). Das Feuer weist einerseits darauf hin, dass die Herrlichkeit des Herrn wie ein verzehrendes Feuer anzusehen (2.Mose 24,17) und Gottes Wort wie ein Feuer ist (Jeremia 23,29). Andererseits zeigt es auch auf, dass die Thora und ihre Auslegung (der Talmud) Zielscheibe ständiger Angriffe und versuchter Vernichtung war. Hitler schrie kurz nach der Machtergreifung: „Wir kämpfen gegen den ältesten Fluch, den die Menschheit auf sich gezogen hat … Dieses teuflische ‚Du sollst, du sollst!‘ Und dann dieses törichte ‚Du sollst nicht‘! Das muss endlich aus unserem Blut verschwinden, dieser Fluch vom Berg Sinai.“ Hitler hat uns vorgelebt, was passiert, wenn der Mensch sich von Gottes Normen lossagt.
Die beiden Frauen „Rachel und Ruth“ drücken den Gegensatz von Verzweiflung und Trost aus. Jeremia 31,15 schreibt: „So spricht der HERR: Man hört Klagegeschrei und bitteres Weinen in Rama: Rahel weint über ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen über ihre Kinder; denn es ist aus mit ihnen.“ Ruth wurde die Ururgroßmutter Davids (Ruth 4,17), von dem der verheißene Messias und Hoffnungsträger kommen wird. Die Krone weist auf das ewige Königshaus Davids hin, von dem das Zepter nicht weichen wird, bis der verheißene Messias kommt (1.Mose 49,10). Der dreiarmige Leuchter und der Vorhang symbolisieren den Tempel, von dem in Joel 4,17 steht: „Ihr sollt’s erfahren, dass ich, der HERR, euer Gott, zu Zion auf meinem heiligen Berge wohne.“
Hesekiel beschreibt in einer Vision die „Wiederherstellung der Totengebeine“ (Hesekiel 37). Er erhält den Auftrag: „Weissage über diese Gebeine und sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, höret des HERRN Wort! So spricht Gott der HERR zu diesen Gebeinen: Siehe, ich will Odem in euch bringen, dass ihr wieder lebendig werdet (Vers 4-5). … Und ich will meinen Odem in euch geben, dass ihr wieder leben sollt, und will euch in euer Land setzen, und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin. Ich rede es und tue es auch, spricht der HERR“ (Vers 14). Die Totengebeine erinnern an die Skelette in den Konzentrationslagern.
Darunter wird an den „Warschauer Ghettoaufstand“ erinnert. Am Tag des Sederabends, am 19. April 1943, rückten die deutschen Truppen ins Warschauer Ghetto ein, um die noch übrigen 70’000 Juden ins Todeslager zu deportieren. Doch sie trafen auf erbitterten Widerstand, der bis zum 16. Mai andauerte. Dieser Aufstand wurde zum Symbol und Wendepunkt des jüdischen Pazifismus hin zur aktiven Selbstverteidigung. Auf dem Relief werden der militärische und religiöse Doppelaspekt der Revolte durch zwei zentrale Kontrastfiguren dargestellt. In der Mitte ist übergroß ein junger Mann mit Davidstern abgebildet, der wohl den zionistischen Anführer der Revolte, Mordechai Anielewicz, darstellt, während unter ihm in einem Kellergewölbe ein alter frommer Mann der die Thora umarmt. Diese Szene spielt möglicherweise auf das angebliche Testament von Jossel Rackower aus Tarnopol an, das dieser am 28. April 1943 in den brennenden Ruinen des Warschauer Ghettos verfasst, anschließend in eine Flasche gesteckt und vergraben haben soll. Er schrieb: „Ich glaube an den Gott Israels, auch wenn Er alles getan hat, dass ich nicht an ihn glaube. (…) Ich hab‘ ihn lieb. Doch seine Tora hab‘ ich lieber (…) Seine Thora würde ich weiter hüten.“
Das „Schma Israel“ ist das zentrale vereinende Bekenntnis des jüdischen Volkes. Das jüdische Glaubensbekenntnis steht in 5. Mose 6,4: „Höre, Israel, JHWH (Adonai) ist unser Gott, JHWH ist einer.“ (Vergleiche Artikel: Schma Israel) Mit diesen Worten auf den Lippen gingen seit dem Altertum die jüdischen Märtyrer in den Tod. Ein deutscher Besucher wollte im Todeslager Belzec einmal hören, was in den Gaskammern vor sich ging. Er legte sein Ohr an die Kammer, horchte und fand: „Wie in der Synagoge“.
Ganz unten wird der „Aufbau des Landes“ dargestellt. Die Pioniere bewässern, ackern, ernten und bauen. An der Wurzel der Menora pflanzen zwei Kinder ein Bäumchen, als Symbol der Wiedereinwurzelung des entwurzelten Volkes Israel ins Land ihrer Väter.
Text: Hanspeter Obrist
Fortsetzung: Widerstand – der prophetische Arm der Knesset-Menora in Jerusalem
Vergleiche Artikel:
Die Knesset-Menora – Symbole der Identität Israels
Die Menora der siebenarmige Leuchter
Gesamtinterpretation der Großen Menora vor der Knesset in Jerusalem
Israel von seiner Mitte her verstehen
Widerstand – Der prophetische Arm der Knesset-Menora in Jerusalem
Auferstehung – Der rabbinische Arm der Knesset-Menora in Jerusalem
Erlösung – der messianische Arm der Knesset-Menora in Jerusalem